Phänomen BDSM: „Bruch mit sozialen Zwängen“
Zum Osterwochenende finden in Berlin wieder zahlreiche Events rund um Fetisch und BDSM (kurz für Bondage, Dominanz/Submission und Sadomasochismus) statt.
Für unsere Titelgeschichte im April zum Thema BDSM, Trauma und gesellschaftliche Tabus sprach SIEGESSÄULE-Autorin Paula Balov auch mit dem Sexualwissenschafter Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß. Er studierte Biologie und Sozialwissenschaften, seit 2014 hält er die Professur für Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung an der Hochschule Merseburg.
Für SIEGESSÄULE.DE baten wir ihn um eine genauere Einschätzung des „Phänomens BDSM“
Heinz-Jürgen, wie wird BDSM wissenschaftlich erklärt? An diese Frage lohnt es sich, sowohl psychologisch als auch soziologisch heranzugehen. Einerseits durchläuft jeder Mensch eine psychosexuelle Entwicklung, in die auch gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse mit einfließen – wie die Geschlechternorm. So wird ein Kind sogar schon vor der Geburt als „Junge“ oder „Mädchen“ erwartet. Die mit dem Geschlecht verbundenen Stereotype erlernen wir dann nach und nach. Zugleich lernen wir, was uns guttut: etwa führt das Saugen an der Milchflasche oder an einer Brust zur Ausbildung von Rezeptoren, die wir auch als erogen bezeichnen können. Das Erlernen des Zurückhaltens und Loslassens von Ausscheidungen ist ein weiterer solcher Prozess. Schließlich spielen auch autonom gemachte Erfahrungen eine Rolle: auf Reinlichkeit, Wohlverhalten und ähnliches „abgerichtet” zu werden, produziert auch das Verlangen, davon abweichen zu können.
Das alles bestimmt also mit, was wir später als sexuell erregend empfinden? Bis zu einem gewissen Grad ja – welche sexuellen Spielarten oder „Fetische“ wir als Erwachsene interessant finden und welche nicht, kann mit diesen frühen Erfahrungen im Leben zu tun haben. Dem Verlangen etwa, von etwas abzuweichen, das uns als Gebot oder Verbot beigebracht wurde, können wir später im BDSM nachgehen. BDSM-Praktiken stellen oft einen Bruch mit den sozialen Normen oder Zwängen dar, mit denen wir aufgewachsen sind.
Hat das auch mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen zu tun? Ja. Im BDSM werden Herrschafts- und Machtverhältnisse spielerisch nachgeahmt: Der Polizist oder die Chefin agieren. Gleichzeitig birgt das Spiel die Gefahr einer Verhärtung in den Rollen, wie schon der Schriftsteller Hubert Fichte am Ende seines Lebens beobachtete: Da treten der Baron de Charlus und Querelle „in einem Hinterhof zwischen Othmarschen und Altona auf und spielen Mörder, SS-Mann, KZ-Wärter, bis die Seppelhose an der Seele festwächst, wie Jäcki sagte“.
Was meinst du damit: eine Gefahr der Verhärtung in den Rollen? In BDSM-Settings können erlernte Hierarchien und Rollenmuster spielerisch hinterfragt werden – ebenso aber kann es sein, dass man genau das reproduziert, was man als Herrschaftsverhältnis gelernt hat. Auch unser Sex ist also stets „politisch“, er macht etwas mit uns.
Kann das auch in eine positive Richtung gehen? Etwa kommt es nicht selten vor, dass Personen, die von Gewalterfahrungen betroffen sind, traumatische Erlebnisse in BDSM-Sessions mit hinein tragen. Welchen Nutzen kann das für Betroffene haben? Eine als traumatisch erlebte Erfahrung in einem sicheren Rahmen, in einem BDSM-„Spiel“, zu wiederholen, kann unter Umständen die Verarbeitung fördern. Die betroffene Person erlangt durchaus Handlungsfähigkeit zurück – auch wenn sie sich in der konkreten sexuellen Situation unterwirft oder sich Schmerzen aussetzt. Bei Anderen kann die Reinszenierung von traumatischen Situationen aber auch zur Verstärkung der Traumata führen. Bei den wenigsten, die BDSM praktizieren, steht jedoch ein konkretes traumatisches Erlebnis dahinter. Der Bezug zum eigenen Lebenslauf lässt sich meist auf einer abstrakteren Ebene finden: etwa, indem durch BDSM die eigene Position in bestehenden Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnissen ergründet wird.
Was können gesellschaftlich schlechter gestellte Gruppen, etwa queere Menschen, daraus ziehen? Sich auszuprobieren und Möglichkeitsräume zu erkunden: das kann gerade auch gut im BDSM geschehen. Geschlechterverhältnisse können spielerisch verändert, alternative Umgangsweisen ausprobiert werden. Bei BDSM geht es im Kern um Vertrauen. Insofern ist eine geübte Szene oder Community wichtig – mit ihren internen Regelungen wie zum Beispiel dem Gebrauch von Safe Words und mit einem achtsamen Umgang miteinander.
Interview: Paula Balov