Pater Klaus Mertes zu Missbrauchsfällen: „Homophobe Verteidigungslinie“
Der Jesuitenpater Mertes gilt innerhalb der katholischen Kirche als Reformer und Aufklärer. Im Interview spricht er über die aktuellen Missbrauchsvorwürfe, christliche Sexualmoral und Homophobie
Herr Mertes, vor kurzem wurde in Pennsylvania der Missbrauch von Tausenden Kindern durch katholische Priester aufgedeckt. Junge Männer wurden gezwungen, nackt in einem Pfarrhaus die Pose Jesu einzunehmen, Mädchen wurden geschwängert und Abtreibungen arrangiert. Wieso passiert so etwas? Woher solche Verbrechen kommen, weiß ich nicht. Was die Sache verschlimmert ist, dass die Vorfälle von der Leitung vertuscht worden sind.
Was macht die Aufdeckung von Missbrauch in der katholischen Kirche denn so schwierig? Die Überhöhung der priesterlichen Autorität, die Doppelbödigkeiten der katholischen Sexualmoral und das sakrosankte der priesterlichen Macht. Man kann sich dem Missbrauch in der katholischen Kirche nicht stellen, ohne diese Elemente, die die katholische Identität ausmachen, in Frage zu stellen. Deswegen ist die Aufklärung auch so schwierig, weil sie Strukturprobleme in der katholischen Kirche offenbart.
In Pennsylvania müssen die Vorfälle ja vielen Menschen bekannt gewesen sein. Wieso sprechen so wenige offen darüber? Weil man die Symptome von sexuellen Missbrauch nicht sehen will und die Opfer zurück ins Schweigen drängt. Oder weil man in dem Moment, in dem sich das Vorgefallene nicht mehr abstreiten lässt, möglichst schnell die Täter entfernt, um die Institution zu schützen. Die Kirche befürchtet, dass sie ihrem Ruf schaden könnte, sobald man den Missbrauch offen anspricht. Dabei schwächt es die Kirche viel mehr, wenn sie die Dinge vertuscht und Aufklärung vermeidet.
Der Papst sagte vor kurzem, dass Eltern ihre homosexuellen Kinder zum Psychiater schicken sollten. Zwei Monate zuvor sagte er, dass homosexuelle Paare vor Gott nicht als Familie anerkannt würden. Wie schwer haben es Homosexuelle in der katholischen Kirche? Das sind letztlich diskriminierende Aussagen. Die machen Homosexuellen das Leben in der Kirche schwer. Die Kirche nimmt die Realität nicht zur Kenntnis, nämlich dass es Homosexualität eben gibt und dass das weder mit Sünde noch mit Krankheit zu tun hat. Die Verteufelung der Homosexualität zeigt sich momentan auch in der homophoben Verteidigungslinie, die die katholische Kirche beim Thema sexueller Missbrauch einnimmt: sie behauptet, dass die schwulen Kleriker daran schuld seien.
Das müssen Sie mir erklären. Das war die Strategie von Johannes Paul dem II: Man müsse nur die Schwulen aus dem Klerus herauswerfen, dann würde es auch keine Probleme mehr mit sexuellem Missbrauch geben. Ein anderer Aspekt der Homophobie, den man in diesem Kontext nennen kann: Homosexuelle Männer dürfen in der katholischen Kirche eigentlich keine Priester werden. Wenn sie es doch werden, dann lügen sie häufig; und das drückt sie mit einem Schuldgefühl ins Schweigen. Häufig entdecken homosexuelle Priester übrigens ihre sexuelle Orientierung erst, wenn sie Priester sind – und begreifen dann, dass der Zölibat für sie attraktiv war, um der Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität zu entgehen. Es ist ja auch bekannt, dass die härteste Homophobie von Homosexuellen kommt, die sie bei sich selbst verleugnen. Das ist meines Erachtens auch im Klerus ganz deutlich zu beobachten.
Und trägt mit zu Sprachlosigkeit über Sexualität bei? Ja. Es gibt eine Unfähigkeit, in der ersten Person Singular über die eigene Sexualität zu sprechen. Wer das nicht kann, der kann auch Opfern von sexueller Gewalt nicht zuhören.
Interview: Judith Sevinç Basad
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