Hauptstadt der Hexen: über die queere neuheidnische Szene Berlins
Stephanie Kuhnen setzte sich in unserer Titelgeschichte im Mai kritisch mit der Verquickung von Feminismus, Esoterik und Hexenromantik auseinander, die gerade in queeren Zusammenhängen eine Renaissance zu erleben scheint. Ihre These dazu war eindeutig: „Wenn Religion Opium für das Volk ist, dann ist Esoterik das Crystal Meth der Unterprivilegierten.“
Die empörten Reaktionen aus der neuheidnischen Hexenszene ließen nicht lange auf sich warten. Um noch mal einen anderen Blick auf das Thema zu werfen, baten wir Dr. Victoria Hegner von der Uni Göttingen, die im Herbst ein Buch über Hexen in Berlin veröffentlichen wird, auf Empfehlung der Pagan Federation International Deutschland e. V. um ein Gespräch
Frau Hegner, glauben Sie an Hexen? Ich würde so antworten: Ich kenne Hexen.
Und haben diese Hexen magische Kräfte? Es kommt drauf an, was man unter Magie versteht. Es gibt Hexen, die sagen, und da würde ich mich anschließen, dass Magie nichts anderes ist als das ständige Arbeiten an und in sich selbst. Um dadurch eine Veränderung in sich und in der Welt hervorzubringen. Insofern sind demnach alle Momente der Veränderung auch magische Momente.
Sie beschreiben Berlin als Zentrum der neuheidnischen Hexenreligion, als den Ort mit der größten Hexendichte in ganz Mitteleuropa. Wieso Berlin? Ich beschreibe das, sage aber auch, dass das mit dem Habitus von Berlin zusammenhängt, immer den Superlativ für sich zu deklarieren. Ob das stimmt oder nicht, weiß ich nicht. Zumindest wird das erzählt. Eine Erklärung meinerseits wäre, dass Hexen ja schon eine gewisse Exzentrik leben. Das dafür nötige künstlerische und intellektuelle Potenzial bietet die Großstadt, ebenso wie die Freiräume für unterschiedliche Lebenseinstellungen und Formen von Sexualität.
In welcher Verbindung steht diese neuheidnische Hexenreligion zu feministischen und lesbischen Emanzipationsbewegungen? Die sind mehrfach verbunden. Man könnte sagen, dass die feministische Richtung vor allem aus den USA kommt. Da gab es Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre eine Bewegung, die sich Spiritualität feministisch angeeignet hat. Hexen wurden freimütig umgedeutet und so zu Vorgängerinnen der Feministinnen. Das waren alles selbstständige Frauen und deswegen wurden sie verfolgt. Sie hatten ein besonderes Wissen, das vom Christentum ausgerottet wurde – so geht dann die Geschichte. Das ist eine sehr freie Interpretation. Emanzipationstechnisch ging es dann darum, sich dieses Wissen, diese Macht zurückzuholen.
Es ist belegt, dass von der Hexenverfolgung nicht primär heilkundige Frauen betroffen waren, sie vielmehr quer durch alle gesellschaftlichen Schichten wütete. Das ist also eine Umdeutung von Geschichte. Ja. In den Anfängen der modernen Hexenbewegung war das kritisch reflektierte Potenzial nicht so groß. Heutige Hexen sagen: Wir sind uns bewusst, dass diese Geschichte in Teilen eine Erfindung darstellt – aber diese Erfindung stärkt uns. Sie gibt uns Bilder, wie wir Geschlecht anders leben können. Und ob das nun historisch einwandfrei bewiesen ist, ist uns letztlich egal. Das ist sehr postmodern. Viele der heutigen Hexen gehören zu hochintellektuellen Schichten, vor allem in Berlin. Die haben Religionswissenschaft studiert oder Gender Studies. Dadurch haben sie einen sehr reflektierten Zugang. Sie haben aber auch Mut zur Exzentrik und die Stärke, sich als Hexen zu bezeichnen und ihre Rituale zu praktizieren, auch wenn sie wissen, dass andere darüber spotten.
Unsere Titelgeschichte im Mai kritisierte, dass Esoterik und Hexenromantik feministische Kräfte schwächen würden. Esoterik führe zu Rückzug und nicht zu politischer Agitation. Ich denke, dass es so einen Effekt durchaus auch gibt, aber gerade Berlin ist eher ein politisierter Raum. Vor allem in den 80er-Jahren war der Begriff der Hexe eher politisch-feministisch gemeint. Die Hexe war auch ein Synonym für Lesben, die Propagierung der gleichgeschlechtlichen Liebe. Die Befreiung aus dem Patriarchat ging eben damit einher, sich vollständig von Männern abzulösen. Diese starke Politisierung wirkt bei den heutigen Hexen in Berlin sehr stark nach. Es gibt natürlich auch die, die einfach nur ein bisschen Kräutertee mischen und denken, dass davon die Welt besser wird. Aber die Hexen, die ich getroffen habe, sind da anders. Die wissen, dass man dafür auch politisch konkret was tun muss.
Sie schreiben an einer Stelle in Ihrem Buch, dass durch die Figur der Hexe vor allem lesbische Frauen sichtbar wurden und ins Sagbare traten. Inwiefern? Ich kann Ihnen jetzt nicht genau erklären, warum gerade durch die Figur der Hexe. Klar ist, dass die Hexe in den 70er-, 80er-Jahren als Rebellin gegen das Patriarchat interpretiert worden ist. Das war eben vor allem für lesbische Frauen ein ganz wichtiger Aspekt. In Berlin entstand das sogenannte Hexenhaus, ein Hausprojekt in der Liegnitzer Straße, das es bis heute gibt, dann gab es die lesbische Bar Blocksberg. Dieser Bezug zur Hexe spielte also eine wichtige Rolle und galt als ein Codewort. Mit „Hexe“ hat man abgeschreckt und gleichzeitig ordnete man sich damit der großen Frauenbewegung zu, die den Begriff auch verwendete. Mary Daly, eine amerikanische Theologin, entwarf damals die Herrschaft der Hexen. Die ging davon aus, dass wir nur in einer friedlichen Gesellschaft leben werden, wenn wir eine Hexenherrschaft etablieren. Daly war eine sehr ernst genommene Theologin. In Rekurs auf sie sagten manche Hexengruppen in Deutschland: Die Männer werden aussterben und sich als evolutionärer Fehlweg entlarven, weil sich die Frauen irgendwann aus sich selbst heraus reproduzieren werden.
Das ist jetzt doch recht abenteuerlich. Ja. (lacht) Das sind eher Fantasien, die man aber einfach mal formuliert hat.
Der moderne Hexenbegriff entstand auch aus einer Art Gegenbewegung zur als männlich oder patriarchal empfundenen Schulmedizin. Was bedeutete denn dieser Ansatz in der Praxis? In Berlin war die lesbisch-politisierte Gruppe, die sich den Begriff angeeignet hatte, sehr stark, und die hielten diesen spirituellen Kram für Mumpitz. Die eher spirituellen Hexengruppen allerdings haben auf jeden Fall versucht, sich selbst zu heilen. Sie haben betont, dass die Hexe gerade in lesbischen Zusammenhängen eine größere Rolle spielt.
Wenn Sie die neuheidnische Szene heute so überblicken, sind das vornehmlich lesbische Frauen? Es sind dort viele Lesben unterwegs, ja. Obwohl man es eher so sagen müsste: viele Menschen, die sich nicht in heteronormativen Modellen bewegen, die sich bürgerlichen Lebensentwürfen verweigern.
Die Hexe also quasi als queeres Konzept? Genau. Es gibt dort auch öfter als in anderen religiösen Kontexten transgender Menschen. Man hat einen selbstverständlicheren, offeneren Umgang damit als außerhalb dieser Kreise.
Interview: Jan Noll
Victoria Hegner habilitiert sich zum Thema neuheidnische Hexen im großstädtischen Kontext an der Universität Göttingen im Bereich Kulturanthropologie. Sie ist derzeit Dozentin und zugleich hauptamtliche Gleichstellungsbeauftragte der dortigen Philosophischen Fakultät © Sanda Eckardt