Vögeln ohne Gummi? Warum der "Schutz durch Therapie" bekannter werden muss
Ausgerechnet die sonst so gern als langsam und behäbig belächelte Schweiz war hier mal fix vorgeprescht. Genau genommen hatte die vom Bundesamt für Gesundheit berufene Eidgenössische Kommission für Aids-Fragen (EKAF) lediglich das amtlich verlautbart, was der Fachöffentlichkeit schon länger bekannt war: Durch eine funktionierende antiretrovirale Therapie kann bei HIV-Positiven die Vermehrung des Virus so weit unterdrückt werden, dass es faktisch nicht mehr nachweisbar und eine Übertragung damit ausgeschlossen ist. Die Menschen sind zwar weiterhin HIV-infiziert, aber nicht mehr infektiös.
Diese Erkenntnis war nicht nur eine medizinische Sensation, sondern für HIV-Positive eine Befreiung – zum Beispiel von der permanenten Angst, andere Menschen ungewollt und trotz aller Vorsichtsmaßnamen infizieren zu können. HIV-Negativen nahm dieses „EKAF-Statement“ die Restunsicherheit, sich selbst bei Safer Sex mit einem HIV-Positiven anstecken zu können, etwa bei einem „Kondomunfall“.
Dieser Schutz durch Therapie ermöglicht zudem Heteropaaren Kinder zu zeugen, bzw. positiven Frauen ihre Babys zur Welt zu bringen, ohne dass das Virus weitergegeben wird. Und es gibt keinen Grund mehr, Positiven bestimmte Berufe zu verweigern oder in anderen Bereichen des Lebens als gemeingefährliche „Virenschleudern“ zu diskriminieren.
Angesichts dieser Tragweite erstaunte es dann doch, wie zurückhaltend die entscheidenden Stellen waren, diese gute Neuigkeit in die Welt hinauszutragen. In Deutschland sorgten vor allem HIV-Aktivisten dafür. Die Aids-Hilfen, das Robert Koch-Institut (RKI) und auch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) taten sich schwer mit der neuen Sachlage, befürchtete man doch „negative Auswirkungen auf die HIV-Prävention“, wie es der damals zuständige RKI-Fachgebietsleiter formulierte. Schließlich hatte man drei Jahrzehnte der Bevölkerung Kondome ans Herz gelegt, und nun konnte – unter bestimmten Voraussetzungen – auch Vögeln ohne Gummi durchaus sicheren Sex bedeuten.
Man entschied sich also, die Erkenntnisse nicht an die große Glocke zu hängen und keine Verunsicherung zu erzeugen – und stattdessen die Menschen unwissend und damit auf andere Weise verunsichert zu lassen. Nur 10 Prozent der deutschen Bevölkerung wissen um die Schutzwirkung der HIV-Therapie. Das ergab eine im Dezember veröffentlichte Umfrage der BZgA. So richtig überrascht zeigte sich die Bundesoberbehörde nicht. Die Deutsche Aids-Hilfe immerhin informiert seit einigen Jahren intensiv über den Schutz durch Therapie. Seit wenigen Monaten nennt sie ihn auf ihrer Website gleichwertig neben Kondomen und der PrEP als Safer-Sex-Strategie – zehn Jahre nach dem EKAF-Statement wohlgemerkt!
Nichts spricht dagegen, auch weiterhin Kondome zu verwenden, schließlich schützen sie auch vor anderen Geschlechtskrankheiten. Doch die Tragweite des EKAF-Statements von 2008 reicht weiter. Das Wissen um die Nichtinfektiosität entspannt nicht nur den Sex zwischen HIV-Positiven und HIV-Negativen, sondern hat Auswirkungen auch auf das Zusammenleben und trägt dazu bei, die Angst vor einem HIV-Test und einem möglichen positiven Befund zu nehmen. Immerhin, die BZgA weiß nun dank der eigenen Erhebung, was sie zu tun hat: nämlich die restlichen 90 Prozent der Bevölkerung über diesen nicht unerheblichen Nebeneffekt der HIV-Therapie aufzuklären.
Axel Schock