Brief an Wolfgang Schäuble: Warum das Gedenken an Homosexuelle die Demokratie stärkt
Eine Initiative des Historikers und Autors Lutz van Dijk setzt sich dafür ein, dass bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus im Bundestag auch der homosexuellen Opfer gedacht wird. Die Gedenkstunde findet immer am 27.01., dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, statt. Obwohl eine Mehrheit im Präsidium das Anliegen unterstützt, hat Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble bisher keine Zustimmung gegeben – unter anderem mit der Begründung, dass der Termin für 2020 bereits vergeben sei und man mit den Planungen für 2021 noch nicht begonnen habe. Auch stehe er der „Aufteilung des Gedenkens in einzelne Opfergruppen skeptisch gegenüber“.
Lutz van Dijk hat jetzt mit einem offenen Brief an Schäuble reagiert, den wir hier im Wortlaut wiedergeben wollen:
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident Dr. Schäuble,
kurz vor der diesjährigen Gedenkstunde im Bundestag für die Opfer des Nationalsozialismus und dem internationalen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar lassen Sie Ihren Protokollchef, Herrn Dr. Enrico Brissa, uns in zwei Sätzen eine Absage auf unsere erneute Petition erteilen, im Januar 2021 erstmals auch thematisch (und nicht nur in einer pflichtschuldigen Aufzählung) der homosexuellen Opfer zu gedenken.
Dies, obwohl seit unserer ersten Anfrage Anfang 2018 wieder mehr alte Männer gestorben sind, die noch nach 1945 nach dem Unrechts-NS-Paragraphen 175, der in Deutschland bis 1969 unverändert bestand, verurteilt wurden waren und eine Anerkennung ihres Leides im Bundestag im Rahmen einer Gedenkstunde nun nicht mehr werden erleben können. Dies gilt umso mehr für weitere Verschiebungen.
Zunahme der Verfolgung sexueller Minderheiten weltweit
Dies, obwohl seit unserer ersten Anfrage mehr junge Menschen als je zuvor als Angehörige sexueller Minderheiten weltweit verfolgt, gefoltert und hingerichtet oder ermordet wurden und für die es so eine Anerkennung dieses Unrechts vor einem Parlament bisher einzig in Kanada durch Premierminister Justin Trudeau am 29. November 2017 gab. Demgegenüber gibt es immer noch Länder, in denen die Todesstrafe bei homosexuellen Frauen und Männern besteht oder eingeführt werden soll – und der neue Präsident Brasiliens, Jair Bolsonaro, unter anderem erklärte, dass auch er „Schwule, die sich öffentlich küssen, zusammenschlagen würde”.
Dies, obwohl vier der fünf Mitglieder Ihres Bundestagspräsidiums unser Anliegen unterstützen – die Bundestagsvizepräsident*Innen Claudia Roth (Grüne), Petra Pau (Linke), Wolfgang Kubicki (FDP) und Thomas Oppermann (SPD). Nur Bundestagsvizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (CSU) verweigerte wochenlang eine Antwort. Erst nachdem wir Ihre Absage erhalten hatten, antwortete kurz darauf auch Herr Dr. Friedrich – mit den gleichen zwei Sätzen wie in Ihrem Brief.
Eine Antwort in zwei Sätzen
Die beiden Sätze vom 18. Januar 2019 lauten:
1. „Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble sieht nach wie vor keine Veranlassung, sich bereits jetzt mit der Gedenkstunde zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust im Januar 2021 zu befassen, nachdem gerade erst die Planungen für die Gedenkstunde im Jahr 2020 begonnen haben.”
2. „Wie Ihnen bereits mündlich mitgeteilt wurde, steht er – bei allem Verständnis für Ihr Anliegen - der Aufteilung des Gedenkens in einzelne Opfergruppen allerdings aus grundsätzlichen Erwägungen skeptisch gegenüber.”
Im zweiten Satz wird eine mündliche Kommunikation angedeutet, die es bis heute nicht gab. Unsere wiederholten Angebote, dem Bundestagspräsidenten unsere Petition persönlich zu übergeben und zu erläutern, wurden abgelehnt. Es gab bis heute kein Gespräch mit Ihnen. Ein sonst freundliches Telefonat mit Ihrem persönlichen Referenten, Herrn Dr. Lorenz Müller, am 23. Oktober 2017, bestand vor allem in einer formalen Erklärung, dass „Herr Dr. Schäuble prinzipiell keine Petitionen in Empfang nehmen” würde.
Inzwischen wird unsere Petition mitgetragen von 130 eingeladenen Unterzeichner*innen: Viele Geschichtsprofessor*innen aus dem In- und Ausland (darunter allein sechs aus Polen, die damit besonderen Mut beweisen), vier Holocaust-Überlebende (aus Dänemark, Deutschland und den Niederlanden), Sprecher*innen auch anderer ehemals vergessener Opfergruppen (wie z.B. der Roma und Sinti), Vertreter*innen jüdischen Lebens heute in Deutschland und alle uns bekannten deutschen LGBTIQ-Verbänden und –Stiftungen. Ihrer Skepsis gegenüber einer – wie Sie es nennen – „Aufteilung des Gedenkens in einzelne Opfergruppen” möchte ich auf zwei Ebenen antworten.
Warum das Gedenken an einzelne Opfergruppen keine „Aufteilung”, sondern Bedingung für tieferes Verstehen ist:
Als langjähriger Mitarbeiter des Anne Frank Hauses in Amsterdam weiß ich, dass das Schicksal eines einzelnen Mädchens, die ihre Gedanken in einem Tagebuch formulierte, bis heute Millionen Menschen in aller Welt mehr Verständnis für die Bedingungen jüdischen Lebens und Leidens in Europa 1933 bis 1945 vermittelt, als es die eine furchtbare Zahl von sechs Millionen ermordeter jüdischer Kinder, Frauen und Männer jemals kann.
Auf Einladung der Leitung der Gedenkstätte Auschwitz konnte ich 2017 eine freiwillige Fortbildung für die dort tätigen Guides durchführen, die pro Jahr über zwei Millionen Besucher*innen aus aller Welt durch diesen Ort des Schreckens führen, der international als das Symbol nazistischer Vernichtungspolitik gilt. Eine polnische Teilnehmerin sagte danach: „Bisher gibt es keine Information über homosexuelle Opfer in Auschwitz. Erst heute habe ich verstanden, warum die Nazis überhaupt diese Menschen verfolgten und dass es sich nicht nur um deutsche Männer handelte, wie bei uns in Polen zuweilen behauptet wird. Ich will unbedingt mehr wissen.”
Schließlich sei erinnert an Karl Gorath aus Bremerhaven (1912 - 2003), der mit 26 Jahren nach § 175 verurteilt und später nach Auschwitz deportiert worden war. Nach eigene Angaben überlebte er nur, weil es ihm gelang, auf dem Transport vom KZ Neuengamme nach Auschwitz seinen rosa Winkel der homosexuellen gegen den roten Winkel der politischen Gefangenen auszutauschen.
Später erzählte er uns: „Die mit dem rosa Winkel standen ganz am Ende der Hierarchie aller Häftlinge ... die meisten überlebten nur wenige Wochen im KZ.” Mitte der 1950 Jahre wird Karl Gorath erneut in der jungen Bundesrepublik wegen § 175 denunziert. Bei der Vernehmung zeigt ihm der Kriminalbeamte seine Akte aus der NS-Zeit und sagt: „Sie sind ja nicht das erste Mal wegen so etwas bei uns.” Können Sie einem Menschen wie Karl Gorath und mit ihm über 60.000 anderer Männer, die nach 1945 aufgrund von § 175 verurteilt wurden, in einer bloßen Aufzählung der Opfergruppen gerecht werden?
Können Menschen heute wirklich verstehen, welche Wurzeln auch aktuelle Homophobie hat, ohne eine differenzierte Würdigung auch dieser Gruppe der damals verfolgten Homosexuellen?
Warum ein Gedenken an einzelne Opfergruppen Stärkung unsere Demokratie bedeutet:
Zu Zeiten Ihres Vorgängers, des ehemaligen Bundestagspräsidenten Prof. Dr. Norbert Lammert, der insgesamt zwölf Jahre dieses Amt inne hatte und Anerkennung über alle Parteien hinweg genoss, gab es bereits drei Mal ein thematisches Erinnern an einzelne Opfergruppen in den offiziellen Gedenkstunden des Bundestages: An Roma und Sinti (2011), an Zwangsarbeiter*innen (2016) und an Behinderte und Euthanasie-Opfer (2017).
In seiner Abschiedsrede am 5. September 2017 formulierte Prof. Lammert vor dem Bundestag Sätze, die Sie ermutigen mögen, Ihre Skepsis zu überwinden, um 2021 auch an sexuelle Minderheiten als Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern: Das „Herz der Demokratie... kann und muss verlässlich... in dem gemeinsamen, aber nicht immer präsenten Bewusstsein schlagen, dass eine vitale Demokratie nicht daran zu erkennen ist, dass am Ende Mehrheiten entscheiden, sondern daran, dass auf dem Weg bis zur Entscheidung Minderheiten ihre Rechte wahrnehmen können. Dafür zu sorgen, ist die nicht immer einfache, aber nach meinem Verständnis vornehmste Aufgabe des Parlamentspräsidenten.”
Wir werden nicht aufhören, unseren Beitrag zur Stärkung dieses Herzens der Demokratie zu leisten, gemeinsam mit mehr und mehr anderen Bürger*innen (ausführlicher dazu u.a. die Historikerin Prof. Dr. Stefanie Schüler-Springorum im Tagesspiegel, auch sie eine Unterzeichnerin unserer Petition).
Aus grundsätzlichen Erwägungen – und weil wir es in diesem Teil der Welt können und darum tun sollen.
Mit freundlichem Gruß,
Lutz van Dijk