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„Voguing“: Tanzen als queerer Widerstand

18. Sept. 2018
Bild: © George Andress
© George Andress

Getanzt hat Ariclenes A. Garcia schon immer gerne, doch zum Vogue kam er erst 2014, durch einen Besuch beim Berlin Voguing Out Festival. „Ich war total fasziniert von der Atmosphäre, den Kostümen, den Leuten. Es war egal, welches Geschlecht du hast, woher du kommst, welche Hautfarbe du hast!“ Spontan tanzte er mit – und hatte eine neue Leidenschaft entdeckt. Heute ist der gebürtige Angolaner, der seit 15 Jahren in Berlin lebt, stolzes Mitglied des House of Melody und Leiter eines Voguing-Projekts für queere Geflüchtete. Vor einigen Monaten gründete der 25-Jährige sogar seine eigene „Familie“: das Kiki House of Arise.

Von New York in die Welt

Die Ursprünge dieser familienartigen Verbände kommen aus der queeren Subkultur in New York, wie auch das Voguing selbst. In den 1980er Jahren entwickelte sich aus der lateinamerikanisch und afroamerikanisch geprägten Ballroom-Kultur in Harlem ein extrem stilisierter Tanz, der sich aus ganz verschiedenen Einflüssen zusammensetzt: Modelposen, ägyptische Hieroglyphen, Martial-Arts-Filme und Hip Hop fanden Eingang in die ritualisierten Bewegungsabläufe und exaltierten Posen des Vogue.

Doch Glamour war nur eine Seite der sich neu etablierenden Szene: Für viele Teilnehmer_innen – in der Mehrheit schwule und trans* PoC – boten die „Battles“, das Tanzen gegeneinander vor Publikum, den einzigen sicheren Raum, um sich in ihrer ganzen Vielfalt zeigen zu können. Ebenso wichtig war der Zusammenhalt innerhalb der verschiedenen Voguing-Gruppen, der „Houses“ – gerade für queere und trans* Jugendliche, die von ihren Herkunftsfamilien verstoßen worden waren.

Madonna, Kommerz und Emanzipation

Verglichen mit dieser langen Tradition steckt die Berliner Ballroom-Szene noch in den Kinderschuhen: 2011 gründete die Tänzerin Georgina Leo Melody mit dem House of Melody das erste deutsche House und rief das Berlin Voguing Out Festival ins Leben, das sie von 2012 bis 2016 zusammen mit der Kulturveranstalterin Mic Oala organisierte. Seit 2017 führt Mic das Festival unter dem Namen Berlin Ballroom Community weiter. Der Anklang war überwältigend. Inzwischen bieten viele Tanzstudios Voguing-Kurse an; die Balls sind regelmäßig ausverkauft. Allerdings hat die Kommerzialisierung auch ihre Schattenseiten. So wird Voguing in Deutschland tendenziell von weißen, heterosexuellen cis Frauen dominiert – Madonna sei Dank, darf man vermuten, die 1990 mit ihrem gleichnamigen Hit Vogue in den Mainstream trug.

Das schmälert den individuellen Empowerment-Aspekt jedoch nicht. „Voguing hat mir die Augen geöffnet“, erzählt Ariclenes aka Arigato Melody. „Ich stehe jetzt zu meiner Sexualität, ich weiß, wer ich bin.“ Durch seine Reisen zu internationalen Wettbewerben kam er in Berührung mit verschiedenen Kulturen und einem breiten Spektrum an Gender-Ausdrucksweisen, aber auch mit harten Themen wie HIV oder psychischen Krankheiten – denn ganz bewusst bieten die Balls auch Raum für Auseinandersetzungen mit sozialen Problemen, die in der Gesamtgesellschaft stigmatisiert werden. „Voguing ist eine Traumwelt, die man sich selber erschafft“, fasst Ari zusammen. „Aber ich nehme mir jedes Mal von dieser Traumwelt ein Stückchen mit hinüber ins wahre Leben, um selbstbewusster aufzutreten und zu mir zu stehen, z.B. wenn ich geschminkt bin.“

Politisch Tanzen

Mit der Zeit wurde sein Wunsch immer stärker, dieses Empowerment auch an andere weiterzugeben, die weniger Möglichkeiten haben. Als er Anfang 2017 mit einem Freund sprach, der Kontakt zu queeren Refugees hatte, war die Idee für Future V geboren: Anfangs ein Tanzfilmprojekt mit queeren Geflüchteten, richtet sich Future V nun allgemein an marginalisierte Menschen, die sich z.B. reguläre Tanzkurse nicht leisten können. „Mein Anliegen war es, mehr People of Color in die Szene zu holen, und die politische Aussage – Voguing als Widerstandspraxis – wieder mehr in den Vordergrund zu rücken“, sagt Ari. Im März 2018 gründete er das Kiki House of Arise, in das er die Tänzer_innen der ersten Generation von Future V aufnahm. Während die Kiki Balls als geschlossene Veranstaltungen „safe spaces“ für die Teilnehmenden bleiben sollen, um sich in verschiedenen Kategorien auszuprobieren, treten Ari und seine „Kids“ auch öffentlich auf, in Berlin sowie bei internationalen Festivals.

Wer Future V & friends live erleben möchte, hat dazu bei ihrem nächsten Event am 22.9. Gelegenheit: Neben den neuesten Vogue-Choreos gibt es Gesprächsrunden mit den Künstler_innen, einen Auftritt des Berliner PoC-Drag Kollektivs House of Living Colors und natürlich eine Aftershow-Party, bei der das Publikum dann selbst ein paar Moves aufs Parkett legen kann.

Anja Kümmel

Future V Part III, 22.09., Slaughterhouse Moabit, 18:00

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