Zwischen Thirst-Traps und Klassenkampf: Luigi Mangione als Projektionsfläche
Der Fall Luigi Mangione wird viel diskutiert und alle haben mitzureden – von Schlagzeilen, Memes bis hin zu Thirst-Traps auf TikTok. Am Dienstag wurde Mangione des Mordes an dem CEO von United Healthcare angeklagt. Aber was steckt hinter dem Social-Media-Hype um ihn und seine vermeintliche Persona als Robin Hood gegen die ausbeuterische Gesundheitsindustrie der USA?
„Mama I’m in love with a criminal“, die Lyrics des Songs „Criminal“ von Britney Spears trenden gerade auf TikTok, denn das Internet ist verliebt – in einen mutmaßlichen Mörder namens Luigi Mangione. Ihm wird vorgeworfen, den CEO von United Healthcare, einem der größten Versicherungsunternehmen der USA, erschossen zu haben, und sorgt damit derzeit neben Schlagzeilen für eine Flut an Memes und Thirst-Traps auf TikTok, Instagram und X.
Die Hintergründe der Tat, die nach und nach an die Öffentlichkeit kommen, lassen reichlich Raum für Spekulation und Projektion. Etwa trugen die am Tatort gefundenen Patronenhülsen die Worte „delay”, „deny”, „depose” – ein deutlicher Verweis auf umstrittene Praktiken der Versicherungsbranche, bei der Leistungen verzögert und abgelehnt werden. Bei seiner Festnahme fand die Polizei ein handgeschriebenes „Manifest“, in welchem er seinem Frust über die Gesundheitsindustrie Luft machte und laut der New York Times der Versicherungsbranche „Korruption und Machtspiele“ vorwirft. Berichten zufolge steht dort drin: „Die Parasiten haben es verdient.“
Politische Haltung in Memes
Seitdem mehr Details über den ITler mit digitalen Fußabdruck und seinen scheinbar politisch motivierten Tatgründen ans Licht kommen, gibt es zwischen Thirst-Traps und Liebesbriefen quasi kein Halten mehr. In einem mittlerweile gelöschten und davor viralen Video einer Lesbe heißt es: Lieber Luigi Mangione, aus persönlichen Gründen, werde ich sehr bald 100 Prozent deines italienischen Spermas brauchen, um mich biologisch zu repräsentieren. In einem Brief fragt sie ihn als Samenspender an, weil sie sich doch so ähnlich seien.
In anderen Videos schreiben User*innen Kommentare wie „Ich: gay. Ich, wenn Luigi: vielleicht nicht SO gay", kreieren den Hashtag #LesbiansForLuigi und erklären, sie seien zwar nicht unbedingt zu ihm hingezogen, aber würden sich glücklich schätzen und danken ihm für seinen Dienst an ihrem Land.
Der Konsens zwischen Links und Rechts: Das US-Gesundheitssystem scheitert und die Leute sind erschöpft. Anders gesagt: Eat The Rich.
Sexy Edits seiner Bilder, versehen mit pinken Filtern und K-Popsong, dessen Beat genau beim Schuss im Tatvideo droppt, sind so skurril und makaber, dass zukünftige Historiker*innen sich beim Erklären dieser Trends den Kopf zerbrechen werden.
Andere TikTok-User*innen erfinden Fake-Alibis, die behaupten, Mangione habe die Tatzeit mit ihnen auf einer „Sniffies-Party“ verbracht, eine Anspielung auf eine Sexparty unter queeren Männern. Wenig überraschend, dass diese Ironie und ein solcher Subtext insbesondere von queeren Menschen kommt, denn genau diese Art humorvolle Subversivität und Widerstand sind tief in den Lebensrealitäten vieler Queers verankert.
Allerdings springen nicht nur queere linke Menschen auf den Wagen auf. In einem Youtube-Video, in dem der konservative Kommentator Ben Shapiro Mangione als „sozialistischen Daddy” degradiert, kehren ihm seine sonst treuen Fans den Rücken zu und solidarisieren sich mit Mangione. Der Konsens zwischen Links und Rechts: Das US-Gesundheitssystem scheitert und die Leute sind erschöpft. Anders gesagt: Eat The Rich. Millionen Amerikaner*innen haben keinen Zugang zu bezahlbarer Gesundheitsversorgung, und rund 80 Prozent kämpfen mit hohen medizinischen Kosten.
Ein Symbol für Klassenkampf?
Mangione wird in dem Kontext nicht nur als attraktiver Antiheld gefeiert, sondern auch als Symbol für Klassenkampf und Widerstand – und zwar gegen eben diese Ungerechtigkeit, die dem amerikanischen Gesundheitssystem innewohnt. Dabei kommt Mangione selbst aus einer wohlhabenden Familie und ist zur Eliteuni „University of Pennsylvania" gegangen. Ob es dieser Hintergrund war, oder seine wohl chronischen Rückenschmerzen, was ihn letztendlich politisiert hat, kann noch niemand wissen.
Die Polarisierung und Spekulationen um seine Person sind jedenfalls nicht unproblematisch. Über den Fall ist bisher nur wenig bekannt: Sollte der Mord am CEO ein Symbol gegen das System und für Klassenkampf sein, oder gab es ganz andere, persönliche Gründe? Ist Mangione der heroisch-subversive Selbstjustizler, zu dem ihn alle machen? Und: Ist er trotz Anklage überhaupt der Täter? Das Internet ist schnell darin, sich eine Meinung zu bilden und diese grenzenlos zu verbreiten.
Klar ist: der Frust wurzelt tief, denn jährlich sterben schätzungsweise 30.000 bis 40.000 US-Amerikaner*innen an den Folgen der Kommerzialisierung des Gesundheitssystems. Gleichzeitig dürfen einzelne Personen aufgrund dieser systematischen Ungerechtigkeit nicht zur Zielscheibe werden. Was sagt es über unsere aktuelle politische Lage und Zukunft, wenn die Wut auf das System so groß ist, dass Mord als legitimes Mittel gesehen wird?
Der Frust wurzelt tief, denn jährlich sterben schätzungsweise 30.000 bis 40.000 US-Amerikaner*innen an den Folgen der Kommerzialisierung des Gesundheitssystems.
Fragwürdig ist, unter welchen Umständen diese Legitimierung passiert. Denn wenn Mangione laut öffentlichem Konsens nicht so „unfassbar heiß“ wäre, würde der Diskurs um ihn vermutlich ganz anders verlaufen. Seine markanten Gesichtszüge, buschigen Augenbrauen und braunen Locken machen ihn zur wahr gewordenen Fantasie für dürstende Linke – Pretty Privilege lässt grüßen. Auf X liest man in dem Sinne Sätze wie: „Er hat einen CEO an hellichtem Tag einfach für den Plot ermordet – stell dir vor, was er für deinen Geburtstag tun würde“. Natürlich gibt es auch differenzierte Meinungen zu Mangione sowie Leute, die seine politische Clout gerade aufgrund der Popularität und dem befremdlichen Beigeschmack kritisch hinterfragen.
Wie auch immer man zum Fall Mangione stehen mag, einen positiven Nebeneffekt muss man dem derzeitigen Hype lassen: Er stößt eine Debatte über den dringend nötigen Wandel im US-Gesundheitssystem an. Realistisch gesehen ist es wahrscheinlich, dass Mangione sich wie viele andere virale Phänomene im digitalen Zeitalter lediglich als Trend entpuppt, der schon bald vom nächsten ersetzt wird, während sich das kaputte System unverändert weiter dreht. Denn zwischen Aufklärung und Realitätsflucht befindet sich nur ein schmaler Grat. Zwar ist ein politisch geladener Diskurs über Ungleichheit und Klassismus besonders nach Donald Trumps Wiederwahl wünschenswert. Aber dass ein potenziell krimineller Ivy-League-Absolvent das ganze Internet horny macht und gleichzeitig Klassenbewusstsein auslöst – das stand wohl auf niemandes 2024-Bingocard.
Zur Autorin: Elira Halili beschäftigte sich in ihrem Bachelorstudium u.a. mit dem Einfluss sozialer Medien auf Identitätspolitik. Sie studiert derzeit im Master Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der UdK und ist im Bereich Social Media und Öffentlichkeitsarbeit bei der NGO Lobby Control tätig.
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