Zwischen Krise und Hoffnung: Social Media im Wandel
Soziale Medien stecken in der Krise: Moderationsrichtlinien werden abgeschafft, Hassrede und Diskriminierung bestimmen den Diskurs. Währenddessen wirft Elon Musk den Hitlergruß und Mark Zuckerberg redet über mehr maskuline Energie in der Arbeitswelt. Wie sind wir hier gelandet – und welche Alternativen gibt es für die LGBTIQ*-Community? SIEGESSÄULE-Kolumnistin und Social-Media-Nerd Doris Belmont hat sie unter die Lupe genommen
Einst waren die sozialen Medien eine nette Ablenkung für gelangweilte Millennials und Lifestyle-Avantgardist*innen, sind sie aber längst vom „Nice to have“-Gimmick zur unverzichtbaren Realität mutiert. Heute hat fast jeder ein virtuelles Abbild seiner selbst – die physische Existenz allein ist längst nicht mehr genug. Doch diese neue Realität steht auf äußerst wackeligem Fundament. Denn soziale Medien sind in unseren Zeiten vor allem eins: eine Ware. Und hinter diesem Warenangebot verstecken sich Konzerne, die nicht immer unser Bestes im Sinn haben. Aktuell demonstrieren die Spitzenfiguren der größten Plattformen, Elon Musk (X, ehemals Twitter) und Mark Zuckerberg (Meta), was Macht und Reichtum im Oberstübchen so alles anrichten. Musk wirft auf der Bühne den Hitlergruß, Zuckerberg schwadroniert über „mehr maskuline Energie“ in der Arbeitswelt. Was ist da los?
Was wir hier erleben, sind keine skurrilen Einzelfälle. Beide entfalten – pünktlich zur Wiederauferstehung der wütenden Orange Donald Trump – ihr volles Potenzial an toxischer Männlichkeit. Das ist nichts weiter als Kapitalismus in Reinform. Die jüngsten Entwicklungen bestätigen: Meta lockerte seine Moderationsrichtlinien, erlaubt nun (vorläufig nur in den USA) frauenfeindliche und LGBTIQ*-feindliche Diffamierungen unter dem Deckmantel der „freien Rede“ und schaffte firmeninterne Diversitätsprogramme ab, weil sie politisch nicht mehr ins Bild passen. Bei X erleben wir seit Musks Übernahme eine Explosion an Hassrede und Diskriminierung – ebenfalls unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit.
Die Strategie: Aufmerksamkeit um jeden Preis, denn sie hält die Werbekassen am Laufen.
Die Strategie: Aufmerksamkeit um jeden Preis, denn sie hält die Werbekassen am Laufen. Kurzfristig mag das funktionieren, aber die langfristigen Folgen einer Gesellschaft, die sich auf diesen toxischen Plattformen aussetzt, sind nicht auszudenken. Dabei hatte alles doch mal so schön angefangen, oder?
Von Community zu Kapitalismus
In den frühen 2000er-Jahren boten Plattformen wie MySpace, 4chan und StudiVZ völlig neue Möglichkeiten der Vernetzung. Facebook und Twitter existierten zwar bereits, waren jedoch weit entfernt von den monströsen Datensammlern und algorithmischen Gatekeepern, als die wir sie heute kennen. Existierten virtuelle Gemeinschaften wie Subkulturen, Musikliebhaber*innen und Fetischfreund*innen früher nur in abgeschotteten Foren, schufen soziale Netzwerke eine Bühne für Identität und Sichtbarkeit. Davon profitierte die LGBTIQ*-Community maßgeblich.
Der Social-Media-Boom eröffnete unerwartete Möglichkeiten, queere Themen einer breiteren Öffentlichkeit zu zeigen. Zwar boten Plattformen wie StudiVZ oder MySpace keine spezifischen LGBTIQ*-Sektionen, doch formierten sich dort zahlreiche Gruppen, die eine neue Art der Vernetzung ermöglichten. Austausch, Gemeinschaft und ein Szenebewusstsein fanden nicht länger in den Slums des Internets statt, sondern wurden Teil der digitalen Öffentlichkeit.
Diese Entwicklung ging Hand in Hand mit der zunehmenden Verschmelzung von Social Media und Alltag. Spätestens ab 2006, als Facebook global expandierte, etablierten sich soziale Netzwerke als fester Bestandteil des Privat- und Berufslebens. Unternehmen, Werbung und Politik verlagerten sich ins Digitale. Mit der wachsenden Bedeutung von Social Media als Kommunikationsmittel gewann auch die LGBTIQ*-Community an Präsenz. Das trug wesentlich zur Emanzipation und wachsenden Akzeptanz queerer Identität bei.
Das Social-Media-Monopol
Facebook startete 2004 als elitäre Harvard-Spielwiese, öffnete sich 2006 der breiten Masse und versüßte bald einsame Stunden und Arbeitszeit. Twitter, 2006 als Microblogging-Plattform für Tech-Nerds und Journalist*innen gestartet, wurde mit Obamas US-Wahlkampf 2008 zum ultimativen Echtzeit-Ticker für Politik und Nachrichten. Richtig profitabel wurden beide erst, als sie sich für Unternehmen und Werbung öffneten: Facebook mit zielgerichteten Anzeigen ab 2007, Twitter mit gesponserten Tweets ab 2010. Doch warum dominieren heute ausgerechnet diese beiden Plattformen, während MySpace & Co. im digitalen Hades versunken sind?
Facebook perfektionierte 2009 mit dem Like-Button die Nutzerbindung und verschlang mit Instagram und WhatsApp die Konkurrenz. Twitter wurde mit der Etablierung des Hashtags 2007 zur Nachrichtenmaschine und für politische Bewegungen unverzichtbar. Besonders während des Arabischen Frühlings erleichterten beide Plattformen die Organisation und Mobilisierung von Protesten. Während Facebook und Twitter also wuchsen, erledigten sich andere Netzwerke durch schlechtes Management (MySpace) oder Innovationsresistenz (StudiVZ, Lokalisten) selbst.
Die Wahrheit ist ernüchternd wie vorhersehbar: Weder Musk noch Zuckerberg interessiert gesellschaftlicher Fortschritt, es sei denn, er lässt sich profitabel verwerten.
In einer weniger desaströsen Welt könnte man glauben, soziale Medien seien trotz allem noch immer Marktplätze der Ideen – Orte des Austauschs, der Vernetzung, des Aktivismus. Doch die Wahrheit ist ernüchternd wie vorhersehbar: Weder Musk noch Zuckerberg interessiert gesellschaftlicher Fortschritt, es sei denn, er lässt sich profitabel verwerten.
Dabei sind besonders für queere Jugendliche soziale Medien essenziell für Identitätsfindung und Gemeinschaftsbildung – laut einer Studie des Public Religion Research Institute identifizieren sich 28 Prozent der Gen Z als LGBTIQ*, was die Bedeutung digitaler Räume für Austausch und Unterstützung unterstreicht. Gleichzeitig sind sie dort verstärkt Risiken wie Cybermobbing und Online-Diskriminierung ausgesetzt. Ein Leben ohne die „richtigen“ sozialen Medien ist für viele kaum vorstellbar – und umso dringlicher wird die Frage, wo queere Menschen noch sichere, sinnvolle digitale Räume finden können.
TikTok – Gen Z, Tanzen, Politik und Überwachung
Kein anderes Netzwerk ist so voll mit queeren Jugendlichen, Drag-Tutorials und absurden Challenges. Ja, TikTok macht Spaß – solange einem der Datenschutz egal ist. Der Algorithmus zielt nicht nur darauf ab, User*innen süchtig zu machen, indem er Inhalte zeigt, die genau ihren Vorlieben entsprechen, sondern ist auch geschickt darin, kontroverse Themen zu pushen.
Für die LGBTIQ*-Community ist TikTok ein zweischneidiges Schwert: Sichtbarkeit? Auf jeden Fall. Kreativer Ausdruck? Absolut. Doch die Moderation lässt zu wünschen übrig – in manchen Ländern werden queere Inhalte systematisch unterdrückt, während Hasskommentare oft unzureichend gelöscht werden. Außerdem ist die Gefahr groß, in einer Filterblase gefangen zu sein. Einmal in einer bestimmten Nische, kommt man schwer wieder heraus – ob es sich dabei um einen Safer Space oder eine Echokammer handelt, bleibt wie im echten Leben, jedem selbst überlassen.
Dazu kommen die altbekannten Bedenken: fragwürdige Datenschutzpraktiken, präzise Datensammlung und mögliche politische Einflussnahme aus China. Und dennoch bleibt TikTok für viele queere Menschen ein unverzichtbarer Ort für Austausch und Repräsentation.
Snapchat – Von Gesichtsfiltern bis Nacktbilder
Für junge Nutzer*innen bleibt Snapchat eine der beliebtesten Plattformen, geprägt durch selbstlöschende Nachrichten, Storys und Augmented-Reality-Filter. Anders als Meta oder X ist Snap Inc. ein unabhängiges Unternehmen und hat wiederholt abgelehnt, von Meta aufgekauft zu werden. Doch auch diese Plattform hat ein großes Problem: Sicherheit. Immer wieder gerät Snapchat wegen Sextortion-Fällen und Online-Grooming in die Kritik. Behörden werfen dem Unternehmen vor, nicht genug gegen die sexuelle Ausbeutung Minderjähriger zu tun.
Für die LGBTQ*-Community bietet Snapchat kreative Ausdrucksmöglichkeiten, doch gezielte Schutzmaßnahmen gegen Mobbing und Diskriminierung fehlen weitgehend. Zwar engagiert sich das Unternehmen offiziell für Vielfalt, aber auch diese Plattform bleibt in der Praxis ein zweischneidiges Schwert.
Reddit – Als das Internet noch wild war
2005 gegründet, ist Reddit einer der letzten Überlebenden der Foren-Ära, als das Internet wesentlich ungezähmter und weniger von Algorithmen gesteuert war. Statt eines einzigen Feeds gibt es unzählige Subreddits – spezialisierte Communitys mit eigenen Regeln und Moderator*innen. Besonders für die LGBTIQ*-Community sind Subreddits wie r/lgbt, r/asktransgender oder r/gaybros wichtige Anlaufstellen für Austausch und Unterstützung.
Ein Vorteil von Reddit ist die dezentrale Moderation: Jede Community verwaltet sich selbst, was vielfältige, themenbezogene Diskussionsräume ermöglicht. Doch diese Selbstverwaltung hat auch ihre Schattenseiten: Die Qualität der Moderation variiert stark, diskriminierende Gruppen bleiben bestehen, und missbräuchliche Meldungen werden genutzt, um Nutzer*innen zum Schweigen zu bringen. Zudem hat die Reddit-Führung mehrfach gezeigt, dass kommerzielle Interessen oft Vorrang haben: Sei es beim Verkauf von Inhalten an KI-Unternehmen zum Trainieren ihrer Modelle oder beim Sperren von Moderationsrechten, nachdem diese Subreddits aus Protest auf privat stellen wollten.
Tumblr – Das queere Internet der 2010er
Es war einst ein einzigartiger Ort für queere Kultur. Tumblr, 2007 gegründet, entwickelte sich schnell zu einer Plattform für kreative Ausdrucksformen und Fandoms. Es war das chaotische, aber lebendige Paradies, das abseits der großen Social-Media-Plattformen zu einem sicheren Rückzugsort nicht nur für queere Nutzer*innen wurde.
Dann der Bruch: 2013 übernahm Yahoo die Plattform, und mit der neuen Muttergesellschaft hielten störende Werbung, finanzielle Interessen und algorithmische Eingriffe Einzug, die die organische Reichweite erheblich einschränkten. Trotzdem hielt die Community zusammen – bis 2018 das Verbot aller Not Safe For Work (#NSFW) Inhalte verkündet wurde. Dieser Schritt traf die LGBTIQ*-Community besonders hart, da Tumblr einer der letzten Orte war, an der die US-amerikanische Prüderie noch nicht Einzug gehalten hatte. Das Verbot löste eine Massenabwanderung aus, und aus dem einst florierenden Netzwerk wurde eine digitale Geisterstadt. Zwar erlaubte Tumblr 2022 wieder Nacktheit (jedoch keine expliziten Inhalte), but the damage was done.
Mastodon – Freiheit mit Einstiegshürden
Mastodon, 2016 gegründet, gilt als dezentrale Hoffnung für alle, die X hinter sich lassen möchten. Im Gegensatz zu zentralisierten Plattformen wie Meta oder X basiert Mastodon auf einem Netzwerk unabhängiger Server, den sogenannten Instanzen, die miteinander verbunden sind. Nutzer*innen können eine Instanz wählen oder selbst eine gründen, wodurch die Kontrolle über Inhalte und Daten in den Händen der Community bleibt.
Der Vorteil für Queers: Jede Instanz hat eigene Moderationsregeln, die gezielt auf die Bedürfnisse der Mitglieder eingehen können.
Der Vorteil für Queers: Jede Instanz hat eigene Moderationsregeln, die gezielt auf die Bedürfnisse der Mitglieder eingehen können. Doch genau diese Vielfalt führt oft zu Verwirrung, vor allem für Neulinge. Während einige Instanzen aktiv moderiert werden und Schutz bieten, sind andere anfälliger für hetzerische Inhalte. In der Tech-Community wird Mastodon oft als sicherere, werbefreie Alternative gefeiert – der Chaos Computer Club nahe Channel chaos.social hat dort eine eigene Instanz. Doch die Dezentralität, die viele schätzen, erschwert gleichzeitig eine breitere Nutzung. Wer also einen einfachen Ersatz für X sucht, könnte an der Einstiegshürde scheitern.
Bluesky – Ersatz für Meta und X?
Der Trend scheint aktuell in Richtung Bluesky zu gehen. Gegründet von ehemaligen Twitter-Entwickler*innen, versteht sich die Plattform als dezentrale Alternative zu den großen Social-Media-Giganten. Anstatt auf zentrale Kontrolle setzt sie auf eine verteilte Struktur, die den Nutzer*innen mehr Macht über ihre Inhalte und Daten gibt. Die Benutzeroberfläche erinnert an traditionelle soziale Medien, was den Einstieg erleichtert.
Für die LGBTIQ*-Community bietet Bluesky ein deutlich sichereres Gefühl als X: Die Moderation funktioniert derzeit besser, die Atmosphäre ist entspannter und toxische Debatten sind weniger präsent. Besonders wichtig ist, dass die dezentrale Architektur verhindert, dass ein einzelner Tech-Mogul die Plattform kontrolliert. Zudem bleibt Bluesky aktuell werbefrei, was bedeutet, dass Nutzerdaten nicht für personalisierte Werbung verwendet werden.
Dennoch gibt es Herausforderungen: Bluesky befindet sich noch in der Beta-Phase, ist noch nicht profitabel und wird derzeit durch Risikokapital finanziert. Auch fehlen bislang alternative Server, die eine vollständige Unabhängigkeit ermöglichen. Um dem entgegenzuwirken, wurde die Initiative „Free Our Feeds“ ins Leben gerufen, die sich für den Aufbau alternativer Server und die finanzielle Unterstützung eines offenen Social-Media-Ökosystems einsetzt. Auch wollen sie eine gemeinnützige Verwaltung des AT-Protokolls einführen, eine Art Regelwerk für soziale Netzwerke, das verschiedene Plattformen miteinander verbinden könnte ohne dass eine Firma alles kontrolliert.
Der Kampf um die Zukunft des digitalen Raums
Eins ist klar: Ein Rückzug aus den sozialen Medien ist keine Option – es sei denn, wir wollen das Feld dem rechten Abschaum und Schwurblern überlassen. Gerade jetzt, wo der öffentliche Diskurs nach rechts kippt, braucht es sichtbaren Widerstand und progressive Stimmen auch im digitalen Raum. Das heißt aber nicht, dass wir uns ohne zu Hinterfragen an alte Strukturen klammern müssen. Solange soziale Medien in den Händen weniger Tech-Mogule liegen, werden sie nach deren Interessen gesteuert.
Was wie ein chaotischer Zusammenbruch aussieht, ist nur ein weiterer Auswuchs des Machtmissbrauchs, den unser System befeuert.
Was wie ein chaotischer Zusammenbruch aussieht, ist nur ein weiterer Auswuchs des Machtmissbrauchs, den unser System befeuert. Eine echte Alternative darf keine neuen Monolithen erschaffen, sondern muss als offenes, dezentralisiertes Netzwerk funktionieren. Plattformen wie Mastodon oder Bluesky zeigen, dass es geht – auch wenn hohe Einstiegshürden, geringe Reichweite und finanzielle Abhängigkeiten noch überwunden werden müssen.
Für marginalisierte Gruppen wie die LGBTIQ*-Community bleibt Social Media ein Balance-Akt: Es ist ein Ort für Sichtbarkeit und Austausch – aber auch für Hassrede und toxische Dynamiken. Während wir an besseren Alternativen arbeiten, müssen queere Institutionen wie Hilfsprogramme und Community-Angebote zumindest anfangs auf den alten Plattformen sichtbar bleiben. Viele Menschen, die dort noch verweilen, brauchen diese Anlaufstellen. Solange neue Plattformen nicht tragfähig sind, gilt: Präsenz zeigen, Missstände benennen und sich nicht verdrängen lassen. Rückzug? Von wegen! Es ist ein Aufbruch – der Kampf um die Zukunft des digitalen Raums hat längst begonnen.
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