Nachruf

Zum Tod von Martin Reichert: Großes Herz und kluger Pragmatismus

6. Juni 2023 Henning Kober
Bild: Jürgen Bauer

Plötzlich und viel zu früh hat am 26. Mai der Journalist und Buchautor Martin Reichert im Alter von nur 50 Jahren sein Leben beendet. Henning Kober erinnert sich an seinen Kollegen und Freund

Das Magische mit Martin war sein Gefühl für alles Maßgebende. Er verstand es einfach empathisch zu sein, sich der eigenen Grenzen dabei wohl bewusst. Trafen wir uns im taz Café, im Südblock, oder im Bateau Ivre, schrieb er mir – war er zuerst da – welche Tische frei sind, oder dass er bereits an der Theke anstehe, was ich gerne trinken möchte? So saßen wir in der Folge eher leise, mit Schorle, und ein Gespräch wurde möglich. Sein Interesse war ehrlich, das Ideal vom ähnlichen Redeanteil war ihm ernst.

Auffällig und angenehm war, dass ich mit Martin nie erschöpft auseinander gegangen bin, dafür stets klüger, meist doch optimistisch, und oft schmunzelnd über unsere wachsende Vertrautheit. In den letzten sechs Jahren war Martin bei der taz wieder mein Redakteur, vor allem aber mehr und mehr mein Freund. In beidem agierte er liebevoll, mit großem Herzen, mit klugem Pragmatismus, und in Treue. Kennengelernt hatten wir uns schon vor 19 Jahren, auch das förderte unser Vertrauen.

Von Wittlich nach Berlin

Geboren 1973, wächst Martin Reichert in der Kleinstadt Wittlich auf, in einem Seitental der Mosel. Sein Vater ist Bereitschaftspolizist, die Mutter gebiert ihren Sohn im örtlichen Krankenhaus, das direkt neben der Justizvollzugsanstalt liegt. 1974 stirbt dort der Filmemacher und als RAF-Terrorist verurteilte Holger Meins, der Freude an Häkelkleid und Stöckelschuhen hatte, und dem Martin Reichert einmal in einem fulminanten Text nachspürte sollte.

Martin ist ein Geschwisterkind, er wächst in einem Reihenhaus auf. Seine Wurzeln „aus einem kleinbürgerlichen Milieu in der Provinz der katholischen Eifel“ versucht er nie zu verschleiern. Er ist mit Liebe aufgewachsen, das war zu spüren. „Die Heimat ist so schön, hat man sie erst einmal verloren“, schreibt er später. Denn die Hölle war es auch.

Wie viele ahnt und merkt auch Martin früh, dass er anders ist als die vielen anderen um ihn herum, wie viele trägt der schwule Junge sein Geheimnis lang allein. Zu seinem Coming-Out kommt es 1996, dem Jahr, in dem er nach Berlin zieht, und an der Humboldt-Universität Geschichte, Anglistik und Europäische Ethnologie zu studieren beginnt. Journalistisches Handwerk lernte er zuvor schon beim Trier Volksfreund, mit 19 wurde er dort Freier Mitarbeiter.

„Die Kapsel - AIDS in der Bundesrepublik“ erscheint bei Suhrkamp

In Berlin heuert er bei der taz an und schreibt bald über alles Menschliche, über Herkunft, insbesondere über queere Menschen, und alle Aspekte des Hochgeschwindigkeitslebens in der Großstadt. Dazu gehört auch seine Kolumne „Landmänner“ über die Zeiten in einer brandenburgischen Kleinstadt, mit seinem damaligen Partner.

2006 gewann er für seine Reportage „Adieu Habibi!“ den Felix-Rexhausen Preis. Auch die SIEGESSÄULE wurde von Martin Reichert über viele Jahre mit Texten unterstützt. Für den Fischer Taschenbuch Verlag verfasste er drei Bücher, darunter das in sarkastischem Ton gehaltene „Wenn ich mal groß bin“. Sein wichtigstes Buch aber erscheint 2018 im Suhrkamp Verlag: „Die Kapsel - AIDS in der Bundesrepublik“. Lange war er der taz treu geblieben, zuletzt aber ließ er sich in die Kulturredaktion des Spiegels abwerben. Im Februar war er 50 geworden.

Tragisches Ende

Viel war in seiner Lebenszeit besser geworden, und doch ist das Ende nun tragisch. In seinem Buch „Die Kapsel“ beschreibt Martin eindrucksvoll was geschehen war, und dazu gehört, dass viele, die die AIDS-Pandemie überlebt haben, sich abkapselten und ihre Gefühle, ihren Schmerz tief in sich einschlossen. Posttraumatisches Stresssyndrom, wie Rückkehrer aus einem Krieg. Vielleicht ist dieser Stress genau betrachtet noch weit breiter angelegt, bereits im Anderssein, im Aufwachsen unten den vielen anderen? Zweifellos ein Stress, und früher Stress erzeugt später Sehnsucht nach Stress. Martin Reichert hat darüber bewegend und genau geschrieben, so wichtig, und doch ist er zuletzt im allerwichtigsten gescheitert, der Sorge um sich selbst.

Sein Tod war kein natürlicher, sondern ein selbst entschiedener. In einer akuten Krise hat er sein Leben am 26. Mai beendet, wie er dies nicht gewollt haben kann, wäre er nicht so verzweifelt gewesen. Es bleibt offen, welche Art von Depression genau Martin letztlich tötete, offeneres Sprechen über unser aller mentale Gesundheit sollte unsere Konsequenz sein.

Zurück bleiben sein geliebter Ehemann Bostjan, seine geliebte Familie und viele Freund*innen, Kolleg*innen, Bekannte, Leser*innen. Es bleiben seine Liebe, und was er geschrieben hat. Noch spüre ich seine feste Umarmung zum Abschied, als wir uns im April zuletzt trafen. Sie kommt mir jetzt einen Moment länger vor, er, der Größere, mein Freund Martin.

Du bist selbst in einer Krise? Du denkst, nicht mehr sein zu wollen? Bitte suche Dir umgehend Hilfe. Professionelle Ansprechpartner*innen rund um die Uhr finden sich beim Berliner Krisendienst oder bei der Telefonseelsorge Berlin, Tel 0800/1110111, kostenfrei und anonym, auch per Chat oder per Email.

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