Interview

Zeuge im Prozess gegen HIV-Arzt: „Ich lasse mich nicht unterkriegen“

9. Dez. 2021 Sascha Suden
Bild: Sally B.

Im Prozess gegen einen Berliner HIV-Arzt wurde der Angeklagte Anfang November wegen sexuellen Missbrauchs in einem Fall schuldig gesprochen. SIEGESSÄULE bat den Zeugen Martin zum Interview

Der HIV-Arzt, dem in fünf Fällen vorgeworfen wurde, Patient*innen während der Behandlung sexuell missbraucht zu haben, wurde Anfang November in drei Fällen freigesprochen und in einem zu einer Haftstrafe von fünf Monaten verurteilt, die in eine Geldstrafe umgewandelt wurde. Ein Fall wird getrennt weiterverhandelt.

Das Gericht sah als erwiesen an, dass der Mediziner eines sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses schuldig ist, und hat keinen Zweifel an der Aussage des Zeugen Martin. Das Urteil vom 1. November ist jedoch nicht rechtskräftig. Denn sowohl Verteidigung wie auch die Staatsanwaltschaft haben Berufung eingelegt.

Mit SIEGESSÄULE sprach Martin nun zum ersten Mal über den Prozess und was er von der Berufung erwartet

Martin, wie geht es dir nach dem Prozess und wie bewertest du das Urteil? Ich bin nach wie vor froh, dass es in meinem Fall die Verurteilung gab. Auch wenn das Gericht in der Urteilsbegründung unterschieden hat, zwischen dem, was in der medizinischen Behandlung passiert ist – denn das bewerten sie nicht als Übergriff – und dem, was danach passiert ist. Das ist eine Einschätzung, die ich nicht teile. Für mich ist in der Behandlung der Übergriff angebahnt worden. Das ist Teil dessen, was die Staatsanwältin in allen Fällen als „Modus Operandi“ des Arztes bezeichnet hat.

Empfindest du das Urteil als gerecht? Die Freisprüche in den anderen Fällen beschäftigen mich sehr, das hätte man auch anders entscheiden können. Gerade in Lars’ Fall finde ich die Begründung brutal. Das Gericht argumentiert, es könne nicht ausschließen, dass Lars in die Praxis gegangen sei, um den Vorfall zu provozieren. Diese Unterstellung finde ich empörend. Auch den Vorwurf des „Strafverfolgungseifers“ finde ich nicht nachvollziehbar. Das heißt doch, dass einem als Opfer nur geglaubt wird, wenn man sich nicht aktiv für die Strafverfolgung einsetzt – völlig paradox. Ohne Lars’ Einsatz wäre es nie zu diesem Prozess gekommen.

Wie hast du den Prozess erlebt? In vieler Hinsicht überraschend. Ich habe so einen Prozess ja zum ersten Mal erlebt und hatte auch keine konkrete Vorstellung davon, wie so etwas abläuft. Dieser Prozess war eine der anstrengendsten Sachen, die ich in meinem Leben gemacht habe.

Warum warst du bei jedem Prozesstag dabei? Ich habe als Erster ausgesagt und bin am nächsten Verhandlungstag nach meiner Aussage direkt wieder zum Prozess gegangen, um zu zeigen, dass ich mich nicht unterkriegen lasse. Ich fand es wichtig, Präsenz zu zeigen.

„Ich war wirklich verblüfft, was in Gerichtssälen möglich ist“

Wie hast du den Verteidiger Johannes Eisenberg gesehen? Ich war wirklich verblüfft, was in Gerichtssälen möglich ist. Dass Herr Eisenberg sich an diesem Ort, der für Außenstehende etwas Getragenes und Ehrwürdiges repräsentiert, permanent so ausfallend verhalten kann, finde ich ungeheuerlich, vor allem seine permanenten Ausfälle und Beleidigungen gegenüber allen Anwältinnen der Nebenklage und der Staatsanwältin.

Hat Eisenberg dir während der Verhandlung wirklich einen Stinkefinger gezeigt, oder hätte man die Situation auch anders verstehen können? Ja, er hat. Die Situation war eindeutig. An der Stelle habe ich mich wirklich gewundert, dass der Richter nicht eingegriffen hat.

Welchen Rat kannst du anderen Betroffenen geben? Sowohl nach einem Übergriff als auch für einen möglichen Prozess? Es ist gut, damit nicht allein zu bleiben. Es ist wichtig, mit Leuten zu sprechen und zu überlegen, ob und wie man sich wehren kann. Betroffene können sich an die Patient*innenbeauftragten und die Ärztekammer wenden. Ich empfehle, das nicht ohne anwaltliche Vertretung zu tun. Die Entscheidung, zur Polizei zu gehen, um unter Umständen einen solchen Prozess zu durchleben, sollte man sich gut überlegen. Im Prozess war relevant, dass einige von uns direkt nach dem Vorfall ein Gedächtnisprotokoll geschrieben haben, und zwar in digitaler Form. Diese Datei sollte man nachträglich nicht mehr verändern und den Computer, auf dem sie erstellt wurde, aufbewahren. Die forensische Untersuchung meines Computers hat z. B. meine Zeitangaben bestätigt. Anders als ich sollte man das Gedächtnisprotokoll aber in eine neue, leere Datei schreiben.

Bist du vom Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) enttäuscht, dass es die Approbation des Arztes nicht ruhend stellt, obwohl die Ärztekammer dies wollte und das Amt es auch könnte? Ein Grund, zur Ärztekammer zu gehen und dann auch zur Polizei, war, dass ich verhindern wollte, dass der Arzt weitere sexuelle Übergriffe in der Praxis machen kann. Das wurde dadurch unterlaufen, dass ich acht Jahre warten musste, bis irgendetwas passierte. Das war schon sehr frustrierend. Vom Versuch der Ärztekammer, beim LAGeSo zu erwirken, dass die Approbation des Arztes ruht, habe ich erst in der Hauptverhandlung erfahren. Das ist ja nur ein Puzzlestein in diesem unfassbar langen Warteprozess, für den ich die Gründe immer noch nicht ganz verstehe.

„Mir hat einmal ein Gericht geglaubt, ich sehe nicht, warum das nicht wieder so sein sollte.“

Warum schweigt ein Großteil der schwulen Community und zeigt keine Haltung? Ich kenne durchaus Leute, die eine Haltung dazu haben und auch nicht unbedingt schweigen. Es sind in den letzten Jahren ja einige Sachen passiert: Ich habe gehört, dass die Schwulenberatung in die Praxis gegangen ist und den Arzt mit den Vorwürfen konfrontiert hat. Die SIEGESSÄULE hat seit ein paar Jahren keine Anzeigen seiner Praxis mehr gedruckt. Juliane Löffler und Thomas Vorreyer haben 2019 bei Buzzfeed ihre umfangreiche Recherche zum Fall veröffentlicht. Und ich finde, gerade der jüngere Teil der Community ist für dieses Thema ganz anders sensibilisiert. Ich sehe also, dass sich Leute positionieren. Bestimmt kann man sich wünschen, dass da noch mehr passiert. Aber eine Erklärung dafür, warum viele zurückhaltend sind oder auch wirklich zu ihm halten, ist für mich, dass der Arzt während der Aids-Krise Großartiges geleistet hat. Diese Praxis war wirklich eine tolle und bemerkenswerte Errungenschaft.

Seine Leistung kannst du anerkennen? Ja, natürlich. Das war ja auch der Grund, warum ich in die Praxis gegangen bin. Eine vergleichbare Praxis gab es in Berlin und Deutschland lange Zeit nicht. Umso schlimmer, dass an einem solchen Ort so etwas passieren kann.

Was erwartest du von der Berufung? In meinem Fall erwarte ich, dass das Urteil bestätigt wird. Ich habe das einmal durchgestanden, ich werde das auch noch einmal durchstehen. Mir hat einmal ein Gericht geglaubt, ich sehe nicht, warum das nicht wieder so sein sollte. Des Weiteren gehe ich davon aus, dass die fragwürdige Annahme des Gerichts, Paragraf 174c erlaube einvernehmlichen Sex zwischen Arzt und Patient*in im Behandlungszimmer, kritisch geprüft wird.

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