Zeitzeug*innen der Aids-Krise: „Unsere Trauer muss laut werden“
Die Generation Aids stand mit dem Rücken zur Wand. Einige, die die Krisenjahre der 80er und 90er miterlebten, sind davon bis heute traumatisiert. Sie haben aber auch viel Ermutigendes zu erzählen: von Liebe und Solidarität in Zeiten des Todes und wie es inmitten einer Katastrophe gelingen kann, eine Gesellschaft zum Besseren zu verändern
Gerade sind wir mitten im zweiten Winter der Corona-Epidemie und die Sozialen Medien laufen über von Ausbrüchen der Wut und Verzweiflung, der Ungeduld und Trauer. Dabei ist es noch keine zwei Jahre her, dass wir zum ersten Mal von dieser neuen Krankheit gehört haben. Ich will den Schmerz der vielen, ihre berechtigten Sorgen und Nöte nicht kleinreden. Ich gebrauche den Zeitraum nur als Messlatte, um auch denen das Ausmaß der Aids-Krise aufzuzeigen, die sie nicht selbst miterlebt haben.
Eine Katastrophe, so lang wie meine Jugend
Die erste Epidemie in meinem Leben dauerte mehr als siebenmal so lang wie Corona bis jetzt gedauert hat, und je nach Betrachtung dauert sie bis heute. Die Aids-Krise war eine Katastrophe, so lang wie meine Jugend.
Am 3. Juli 1981 berichtete die New York Times unter der Überschrift „Rare cancer seen in 41 homosexuals“ zum ersten Mal über das, was später Aids genannt wurde. Natürlich war das nicht der Anfang von Aids, so wenig wie Stonewall der Anfang queerer Bewegungen war, aber für uns im Westen haben wir uns auf dieses Datum geeinigt.
1981 war ich 16 Jahre alt, Schüler der Oberstufe eines saarländischen Provinzgymnasiums und hatte mich frisch als schwul geoutet. Im Juli 1996 berichteten Forscher*innen auf der 11. Internationalen Aids-Konferenz in Vancouver von einer neuen Hochaktiven Antiretroviralen Therapie (HAART), in deren Folge die Sterblichkeit unter Aidspatient*innen enorm sank. Die Rede war vom Lazarus-Effekt: Todgeweihte erhoben sich innerhalb weniger Wochen von ihren Sterbebetten und schienen mit einem Mal gesund zu sein. 1996 war ich 31 Jahre alt, ausgebildeter Redakteur und arbeitete als Korrespondent in den USA.
In den fünfzehn Jahren dazwischen habe ich zwei Liebhaber beerdigt, gut die Hälfte meiner schwulen Freunde und zahllose Bekannte. Und in Deutschland ging es uns mit solchen Zahlen noch vergleichsweise, na ja, gut.
Unwissen auch unter Ärzten
Bernard Butler hatte sein Coming-out 1988 in den USA. 1992 kam er nach Deutschland. Es war eine Flucht vor dem, was vom ersten Tag seines schwulen Lebens an um ihn herum geschah: „Sie starben wie die Fliegen“, sagt er, „ich hatte nicht einmal die Zeit zu weinen, zu trauern, so schnell sind die Leute gestorben. An manchen Tagen musste ich mich entscheiden, zu welcher der vielen Beerdigungen ich gehe.“
Doch das Schicksal von uns Freunden und Bekannten war nichts im Vergleich zu dem, was HIV-positive Personen in diesen Jahren durchmachten. Zumal als Frau: Sabine Weinmann hatte sich 1983 angesteckt und musste sich von Ärzten bohrende Fragen anhören, wie: „Wo haben Sie sich das denn geholt?“
„Die Diagnose war schockierend“, berichtet sie, „aber traumatisierend war das Nichtwissen der Experten. Du saßt auf dem Stuhl im Behandlungszimmer und hast gemerkt: Der hat keine Lösung für dich, der gibt dir jetzt keine Pille und sagt: Es wird alles wieder gut.“
Weit verbreiteter Schwulenhass
Das HIV-Ergebnis nicht als Todesurteil zu sehen, sondern weiterzukämpfen, zu reifen, stärker zu werden, das war eine Aufgabe, die kaum machbar erschien, und viele scheiterten an ihr. Dazu kam die gesellschaftliche Ächtung. Das Westdeutschland der frühen 1980er war in vielen Teilen noch immer eine vom Nationalsozialismus geprägte Gesellschaft. „Wir standen mit dem Rücken zur Wand!“, erinnert sich der ehemalige HIV-Referent der Deutschen Aids-Hilfe Hans Hengelein. „Von der teilweisen Entkriminalisierung des Paragrafen 175, der Sex unter Männern seit der NS-Zeit mit Zuchthaus bestrafte, bis zu Aids hatten wir in Deutschland ganze sieben Jahre!“
Der weit verbreitete Schwulenhass führte dazu, dass viele ihren Status verheimlichten. Krebs war die bei Weitem gesellschaftsfähigere Diagnose. Manche Lebenspartner von Verstorbenen mussten dazu noch inmitten ihrer tiefsten Trauer erleben, wie die Eltern aus der Provinz, die zu Lebzeiten ihren an Aids erkrankten Sohn nicht ein einziges Mal besucht hatten, nun mit dem Möbelwagen vorfuhren und nicht nur das Inventar des Toten mitnahmen, sondern gleich auch noch den Leichnam. Dem zurückgelassenen Geliebten blieb nicht mal ein Grab, um an ihm zu trauern.
„Bernard bedauert, das 'eine junge Generation die Kämpfe nicht versteht, die wir durchstehen mussten'“
Natürlich waren die von HIV betroffenen Gruppen auch selbst Spiegelbild der gesellschaftlichen Realitäten. Sabine kannte schwule Männer schon aus ihrem Elternhaus, doch sie weiß, dass es „für manche HIV-positive hetero Frauen erschwerend war, dass sie plötzlich mit schwulen Männern konfrontiert wurden. Die sahen Schwulsein als etwas Schmutziges und Ekliges an und nun waren sie selbst da hineingeraten.“
Bernard wiederum, der auch vor dem grassierenden Rassismus seiner Heimat geflohen war, erlebte als Schwarze Person nun auch in Deutschland immer wieder rassistische Beleidigungen, sogar unter den Freiwilligen, mit denen er sich in den 90ern bei der Berliner Aids-Hilfe für die Erkrankten und Sterbenden einsetzte. „Ihr Schwarzen bringt alle möglichen Krankheiten, da zieht man sich am besten gleich drei Gummis über!“ sagte ihm ein Freiwilliger der BAH und dem antwortete er: „Ausgerechnet du als Europäer, die so viel Unglück und Krankheiten über die Welt gebracht haben, hast die Traute mir das zu sagen?“ Aber innerlich habe ihn das fertiggemacht, berichtet Bernard, „darum hörte ich damals dort auf und begann stattdessen wieder für Kranke zu singen, so wie ich es vorher schon in Hamburg getan hatte“.
Dennoch sagt er heute, die Katastrophe habe ihn stärker gemacht. Und er bedauert, dass „eine junge Generation die Kämpfe nicht versteht, die wir durchstehen mussten.“
„Allianz der Schmuddelkinder“
„Die Abgrenzungen der einzelnen Gruppen voneinander sind heute viel stärker, als sie es damals waren“, sagt Sabine. Der in jenen Tagen geprägte Begriff „Allianz der Schmuddelkinder“ war in ihren Augen mit Leben erfüllt: „In den Sterbejahren fühlte ich mich als Frau in einer zahlenmäßig von Schwulen dominierten HIV-Bewegung nicht ausgeschlossen oder an den Rand gedrängt. Ich habe viel Solidarität erfahren. Es ging um nichts anderes, als den gemeinsamen Feind, dieses Virus, zu besiegen. Es war ein Kampf, es ging ums Überleben.“
Dieser Kampf hat die Republik nachhaltig verändert, auch wenn die Jüngeren das heute nicht mehr zuordnen können. Die „Allianz der Schmuddelkinder“: Frauen, Schwule, Junkies, Knastis, Sexarbeitende, Migrantisierte mit und ohne Dokumente haben mitten in der Aids-Krise die Hospizbewegung in Deutschland genauso losgetreten wie die ambulante Versorgung von chronisch Erkrankten. Sie haben Spritzenautomaten in die Innenstädte gebracht, Friedhofsordnungen modernisiert und das System Krankenhaus nachhaltig verändert: Patient*innen und Angehörige in den Mittelpunkt gestellt anstelle von Ärzt*innen und Diagnosen. Mehr noch: Sie haben die Partizipation, die Beteiligung von Betroffenen an politischen Prozessen, überhaupt erst in Gang gebracht. Sie haben Minderheiten und Emanzipationsbewegungen politische Relevanz und finanzielle Förderung verschafft. Sie haben eine Fülle von Institutionen gegründet, die bis heute nicht nur in der queeren Community unverzichtbar sind, auch wenn sie gerade vor einem Generationenwechsel und notwendigen Veränderungen stehen.
Die Aids-Krise war dank der HIV-Bewegung einer der größten Modernisierungsschübe der deutschen Gesellschaft seit 1945. „Alle sind gestorben, es war eine tolle Zeit!“, so fasst Sabine die Absurdität der Aids-Jahre im Rückblick zusammen.
„Die Rede vom 'alten weißen schwulen Mann und seinen Privilegien' klingt für schwule Langzeitüberlebende wie blanker Hohn“
Heute sind die Überlebenden der Generation Aids zu oft zu leise geworden, vereinsamt, traumatisiert. In allererster Linie betrifft das die HIV-positiven Langzeitüberlebenden. Viele von ihnen fühlen sich vernachlässigt. Durch die Krankheit innerlich wie äußerlich gezeichnet, haben sie es immer schwerer, mit ihren Bedürfnissen Gehör zu finden. Die Rede vom „alten weißen schwulen Mann und seinen Privilegien“ klingt für schwule Langzeitüberlebende wie blanker Hohn. HIV-positive Langzeitüberlebende haben meist wenig in die Sozialsysteme eingezahlt, leben von mickrigen Renten oder Hartz IV. Ihnen droht Altersarmut oder sie stecken schon mittendrin. Viele wollen nicht mehr über die Krankheit reden und verstummen. Depressionen sind unter Langzeitpositiven weit verbreitet.
Und das Trauma betrifft nicht nur die HIV-Positiven. In den USA hat der Aids-Aktivist Tez Anderson 2014 den Begriff „Aids Survivor Syndrome“ geprägt, eine Form der posttraumatischen Belastungsstörung, die alle Menschen treffen kann, die die Jahre der Aids-Katastrophe durchleben mussten. Mittlerweile hat die Wissenschaft begonnen, das Phänomen ernst zu nehmen. Die „Multicenter AIDS Cohort Study“ (MACS), eine empirische Langzeitstudie zum Thema Aids in den USA, fragte 2017 erstmals spezifisch nach Symptomen, die mit Aids-Survivor-Syndrom einhergehen, wie Depressionen, Alkohol- und Drogengebrauch, Isolation oder auch wiederkehrender Wut. Ergebnis: Mehr als die Hälfte der Befragten berichtete von mindestens einem der Symptome, rund ein Fünftel über mehr als drei.
Das Schweigen brechen
Die Symptome betrafen dabei nicht nur HIV-Positive, sondern auch HIV-Negative, sofern sie die Krisenjahre vor 1996 miterlebt hatten. Tez Anderson kämpft in den USA dafür, den Überlebenden dieser Epidemie den Platz in der Gesellschaft zu geben, der ihnen gebührt; die gleiche Anerkennung, die gleiche Würde, die Überlebende anderer Gräuel von der Gesellschaft bekommen. Auch hierzulande ist die Generation Aids von solcher Anerkennung weit entfernt.
Bernard weint oft im Schlaf, wenn eine Stimme ihm sagt, er habe nicht genug getan. Wenn er wach wird, merkt er, dass es seine eigene Stimme ist, die zu ihm spricht. Auch mich haben meine Aids-Toten jahrelang im Schlaf besucht.
„Wir müssen an die Menschen erinnern, ihre Geschichten erzählen“
Gestorben wird bis heute auf den Aids-Stationen – die Toten von heute sind mehr denn je Opfer von Stigma, Diskriminierung und einer menschenverachtenden Migrations- und Gesundheitspolitik.
Sabine, Bernard und auch ich spüren: Das Trauma ist immer noch da, auch wenn der Krieg von damals zu einer Art friedlichen Koexistenz mit dem Virus geworden ist. BAH-Geschäftsführerin Ute Hiller geht noch einen Schritt weiter, wenn sie sagt: „Wir haben das Trauma unbewusst an die nächste Generation weitergegeben. Damals konnten wir das Erlebte nicht verarbeiten und danach kam das große Schweigen.“
Bernard will dieses Schweigen brechen: „Wir müssen an die Menschen erinnern, ihre Geschichten erzählen. Unsere Trauer muss laut werden. Ein Teil von mir ist mit meinen Freunden gestorben, denn ich habe viel zu lange alles in mich hineingefressen. Dabei können wir so verdammt stolz sein auf das, was wir geschafft haben.“
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