Wiedergänger*innen des Pop: Die neue ABBA-Platte "Voyage"
Heute, am 5. November 2021, erschien mit "Voyage" die erste ABBA-Platte seit 40 Jahren. Ein musikalisches Großereignis. Doch kann die schwedische Supergroup der späten 70er-Jahre den galaktischen Erwartungshaltungen gerecht werden? SIEGESSÄULE-Chefredakteur und erklärter ABBA-Fan Jan Noll hat sich die Platte angehört
Die neue ABBA-Platte ist da! „Eine große Enttäuschung“, schreibt der Tagesspiegel, „Geistermusik“ titelt Jens Balzer in der Zeit. Es ist Freitag, der 05. November 2021, und ich reibe mir bei der morgendlichen Presseschau noch den Schlaf aus den Augen. Doch wie klingt das erste ABBA-Album seit 40 Jahren nun wirklich? Um Punkt Mitternacht erschien „Voyage“ – als ABBA-Fan natürlich längst vorbestellt – auch in meiner Mediathek, und so verband ich den Gang zur Kaffeemaschine mit einem ehrfürchtigen Drücken der Play-Taste.
Klick, next Track, denn der mittelmäßig rührselige Opener „I Still Have Faith in You“ ist bereits seit Wochen veröffentlicht und gehört mit Abstand zur schlechtesten der drei Vorabsingles. Die hatten mit dem schmissigen „Just An Notion“ (allerdings lediglich die gepimpte Version eines 1978er-Demos inklusive Originalgesang) und dem wirklich fulminant berührenden Midtempo-Schieber „Don‘t Shut Me Down“ die Messlatte für die neuen Tracks extrem hoch gelegt. Nun gut, also weiter mit „When You Danced With Me“. Ein eingängiger, leicht zuckriger Folksong im irisch angehauchten Stil. Für ABBA nichts ungewöhnliches, waren doch ihre Platten der Vergangenheit häufig mit einem Folk-Tüpfelchen garniert. Wie man weiß, ist Benny Andersson ein großer Fan von Volksmusik. Was auf alten ABBA-Platten eher nervte, kommt hier irgendwie herzerwärmend daher, auch wenn es kitschig ist. Nach der heimeligen Schunkelnummer freut man sich allerdings auf was Knackiges. Doch nix da: „Little Things“ beginnt und sorgt für den ersten Fremdschäm-Grusel. Zum klebrigen Piano-Intro im Spieluhr-Style singen Agnetha und Frida puppenartig biedere Dinge. Irgendwas mit „Es sind die kleinen Dinge im Leben und außerdem ist Weihnachten“. Klick, weiter, wirklich schlimm. Mit den bereits erwähnten „Don‘t Shut me Down“ und „Just A Notion“ folgen die unangefochtenen Highlights des Albums. Vor allem ersteres rührt mich auch an diesem Morgen zu Tränen. Keine Ahnung, man wird ja auch älter, und das fühlt sich einfach wie nach Hause kommen an.
Vorwärts Richtung Rührung mit seltsam biederen Texten
Apropos Tränen. Das nächste Lied in der Tracklist hätte gerne, dass man solche beim Hören verdrückt. Etwas zu offensichtlich wird hier in Richtung Rührung geschielt, aber das geht schon klar. Die klaviergetragene Powerballade über Beziehungsdrama ist musikalisch solide. Was irritiert, ist der Text. Was genau singt Agnetha da? „You‘re asleep on the couch with Tammy“? Who the fuck is Tammy?? Oder hab ich mich verhört? Offenbar irgend ein Hund. Zum Glück, denn Tammy leckt in einer der folgenden Zeilen Agnetha die Hand. Uff, hätte noch gruseliger werden können. Unbehagen macht sich breit. „Keep An Eye On Dan“ könnte es richten, auch wenn der seltsame Titel dies nicht unbedingt nahe legt. Das Stück beginnt dann auch mit leichten „Gimme! Gimme! Gimme!“- und „S.O.S.“-Referenzen und ein angenehmes Gefühl stellt sich ein, das allerdings erneut vom bizarr wirkenden Kleinfamiliendrama der Lyrics konterkariert wird. Dan ist offenbar ein recht wildes Scheidungskind, das Mutti bei ihrem Ex parkt. Wieder wen kennengelernt bei diesem Song, der 1977 bestenfalls zur B-Seite getaugt hätte. Aber immerhin keine Ballade. Im Gegensatz zum nun folgende „Bumblebee“, das mit „Fernando“-Flöten beginnt. Glockenspiel, Marching Drums, die Damen sitzen im Garten und singen offenbar über eine Hummel.
Mein Kaffee ist mittlerweile kalt geworden und ich fühle mich irgendwie psychedelisch. Kein guter Start in den Tag. „No Doubt About It“ ist schmissig, erinnert mit seinen zeitversetzten Gesangsparts ganz leicht an „Hole In Your Soul“ von „ABBA – The Album“ und ist passabel. Auch, wenn hier besonders deutlich wird, dass Agnetha und Frida zwar immernoch großartige Stimmen haben, mittlerweile aber nicht mehr die messerscharfe Präzision besitzen, die sie eins auszeichnete. Aber sich darüber zu beschweren, wäre ignorant und vor allem arrogant. Textlich gönnt einem die Band einen Moment des inneren Friedens, denn es geht um irgendwas unauffälliges. Keine Ahnung worum, ist aber auch nicht wichtig. „Ode To Freedom“ ist dann auch schon der Closing-Song, der mit einem operettenhaften Streicher-Intro beginnt. Man tagträumt sich zur majestätisch schreitenden Melodie an die schöne blaue Donau. Als Epilog durchaus ok. Irgendwie die notwendige Beruhigung der Nerven zum Ausklang – man hat ja in den rund 40 Minuten dieser Platte bereits einige emotionale Berg- und Talfahren erlebt.
Die letzten Töne sind verhallt und es macht sich in der Tat Enttäuschung breit, um mal beim Tagesspiegel zu bleiben. Das neue Album ist so geworden, wie man ursprünglich dachte, als vor Jahren neue ABBA-Songs angekündigt wurden. Damals war der erste Impuls: Keine gute Idee, kann nur egal oder schlimm werden. Die kurze Euphorie nach den ersten Singles von „Voyage“ weicht nun der Erkenntnis, dass die Zeit eben doch nicht stehenbleiben kann. ABBA sind Geschichte.
Folge uns auf Instagram