Wie man eine Identitätsdebatte vergurkt
In der Folge der ActOut-Aktion von 185 queeren Schauspieler*innen zerlegt sich die SPD gerade selbst mit ihrem Streit über das Thema Identitätspolitik. Was unter dem umstrittenen Begriff zu verstehen ist und warum die Debatte gerade gegen die Wand gefahren wird, erklärt Dirk Ludigs in seinem neuen Bewegungsmelder
Trends aus den USA, auch politische, erreichen Deutschland ja bekanntlich mit zehn Jahren Verspätung und als Off-Brand-Ware. Das gilt insbesondere für den Streit um identity politics oder Identitätspolitik, dessen deutsche Variante sich zum amerikanischen Original in etwa so verhält, wie Star Trek Discovery zu Tribes of Europa.
Gerade rauscht die Frühjahr-2021-Ausgabe dieses politischen Dauerbrenners auf üblichem Niveau und in gewohnter Lautstärke durch die alten und neuen, sozialen und asozialen Medien, der durch Corona-Frust sowieso schon nervösen Republik. Es ist die Chronik des Niedergangs einer Debatte.
„An der Aktion unter dem Hashtag #ActOut war nichts falsch, wenn überhaupt, dann kommt sie ein paar Jahrzehnte zu spät."
Aber der Reihe nach: Anfang Februar fordern 185 lesbische, schwule, bisexuelle trans*, inter, non-binary und queere Schauspielende im Magazin der Süddeutschen Zeitung unter dem Hashtag #ActOut mehr Sichtbarkeit und Repräsentanz – vor allem in Film und Fernsehen, viele, nicht alle, outen sich auch gleichzeitig damit. An der Aktion war gar nichts falsch, wenn überhaupt, dann kommt sie ein paar Jahrzehnte zu spät und erinnert deshalb die Älteren unter uns nicht umsonst an die Aktion „Wir sind schwul“ des Sterns im Jahr 1978.
Wir haben aber nicht mehr 1978, wo alle deinem Mut applaudieren. Und identity politics, die sich nicht in einem größeren Zusammenhang begreift, bleibt rudimentär und angreifbar. Den Zusammenhang von race, class und gender herzustellen, das Intersektionale der Unterdrückungsmechanismen herauszustreichen, hätte der Aktion im Jahre 2021 extrem gutgetan. Es hätte bei den erwartbar kommenden Vorwürfen wichtige allies eingeworben und damit alle weniger angreifbar gemacht.
Es wäre ein leichtes gewesen: Das deutsche Fernsehen behandelt ja nicht nur queere Menschen scheiße. Es missrepräsentiert mindestens genauso Cis-Heterofrauen und BIPOC ganz besonders. Selbst die Familien im deutschen Fernsehen haben mit echten Familien in Deutschland schon lange nichts mehr zu tun. Das deutsche Fernsehen und ausgerechnet das öffentliche-rechtliche ist seit Jahren komplett durchrosamundepilcherisiert, eine eskapistische Scheinwelt für imaginierte Zuschauende, angefüllt mit blonden Held*innen und bayrischen Polizisten, Heimatfernsehen voller Alpenglühen und sturmumtosten Deichen, an dem Adenauer seine wahre Freude gehabt hätte.
So aber fiel es Sandra Kegel in der FAZ leider ein bisschen zu leicht, die 185 in die Ecke der beleidigten Leberwürste zu stellen und mit anekdotischem Halbwissen und struktureller Queer-Feindlichkeit im Gepäck so zu tun, als gäbe es kein Problem. Dass die konservative Frankfurter Allgemeine auf die Aktion der Süddeutschen, ihrer direkten Konkurrenz, mit einem Gegenangriff reagieren würde, kann nur verwundern, wenn man die Gesetze des Journalismus nicht kennt.
„Die SPD geht seit Jahren keiner Debatte aus dem Weg, in der sie nur verlieren kann."
Der Rest ist Geschichte. Die SPD, die seit Jahren keiner Debatte aus dem Weg geht, in der sie nur verlieren kann, lädt Frau Kegel zur Talkrunde, moderiert von der 77-jährigen Gesine Schwan. Was dort geschah, hat der Anwesende Johannes Kram in seinem Blog ausführlich beschrieben. Kurz: es war ein kommunikatives Desaster, in dem Frau Schwan keine bella figura machte. Und als das wiederum zurecht kritisiert wurde, musste, schwupps, der ebenfalls 77-jährige Wolfgang Thierse seiner Parteigenossin aus dem verdienten Ruhestand beispringen, nur um sich den Rüffel von SPD-Parteichefin Esken abzuholen, was dieser wiederum beleidigt mit einem Angebot zum Parteiaustritt konterte.
Innerhalb von nur einem Monat haben es also alle Beteiligten durch ihr Agieren geschafft, aus einer wichtigen Debatte über ein wichtiges, wenn vielleicht auch etwas altbacken angestoßenes Anliegen eine Wahlkampfpetitesse zu machen, deren Nachrichtenwert sich reduziert hat auf: Zwei alte Leute ohne Macht in einer Partei ohne Zukunft haben etwas Homophobes gesagt.
„Identity politics ist so viel mehr als nur der Kampf gegen Diskriminierung der eigenen Gruppe."
Und das genau ist die Crux mit deutschen Debatten über identity politics. Ihnen fehlt zu oft die Tiefe des Verständnisses amerikanischer Diskurse, weswegen sie noch öfter als dort in einer Schlammschlacht versinken, vor allem aber ständig ausgehen wie das Hornberger Schießen.
Identity politics ist so viel mehr als nur der Kampf gegen Diskriminierung der eigenen Gruppe. Identity politics setzt das Verständnis voraus, dass nicht Identitäten real sind, sondern die Unterdrückung auf der Basis von Identität. Identity politics heißt zu verstehen, dass die Unterdrückungsmechanismen von race, class und gender nicht getrennt gedacht und angegangen werden können, ohne dass wir dabei immer neue Ausschlüsse produzieren. Darum ist gute identity politics immer inklusiv und intersektional. Das macht sie so radikal und für alle anderen so gefährlich. Darum beißt sich die Neue Rechte genauso an ihr fest, wie die halbe 68-er Generation. Identity politics ist nicht mehr und nicht weniger als ein vollständiger Paradigmenwechsel im linken Denken.
Identity politics muss sich dabei in zwei Richtungen abgrenzen, einmal gegen rechte Identitätspolitik, die im Gegensatz zur linken Gruppen-Identität für real hält und Unterdrückungsmechanismen darum für gerechtfertigt. Und gegen einen liberalen Universalismus, der so tut, als sei alles in Ordnung wenn wir nur alle farbenblind und ein bisschen bi werden: die „why can’t we all just get along“-Typen, zu denen Gesine Schwan, Wolfgang Thierse und wahrscheinlich sogar Sandra Kegel gehören.
„Wir reden schon wieder nicht mehr darüber, wie rassistisch, sexistisch, klassistisch und queerfeindlich das deutsche Fernsehen ist."
Ich habe in den letzten fünf Jahren nicht erlebt, dass in dieser Auseinandersetzung, die queer-intern ihre Parallele in der Beißreflex-Debatte findet, irgendeine Person ihre Meinung geändert hätte. So ist es auch bei der neuesten Auflage dieser Debatte. Alle, die Kegel, Schwan, Thierse und Konsorten zustimmen, haben ihnen auch schon vorher zugestimmt, alle die sie ablehnen, haben sie vorher auch abgelehnt. Was also ist de facto passiert außer viel Wind und der Tatsache, dass wir schon wieder nicht mehr darüber reden, wie rassistisch, sexistisch, klassistisch und queerfeindlich, kurz: wie grundscheiße das deutsche Fernsehen ist?
Paradigmenwechsel geschehen in der Regel als Generationswechsel. Schwan und Thierse sind zusammen 154 Jahre alt, so alt wie die Partei, die in Umfragen gerade mal ein Zehntel dieser Summe in Prozentpunkten auf die Waage bringt. Erwarte ich von denen, dass die nochmal umdenken? Oder könnte das auch wie beim Familientreffen gehandhabt werden, wo der Arschlochonkel von der IG Bau Steine Erden eine saudumme Bemerkung macht und alle rollen die Augen nach hinten und gehen zur Schwarzwälder Kirschtorte über?
„Wenn wir etwas verändern wollen, müssen wir Allianzen bauen und uns nicht an Leuten abarbeiten, die erwartbar das Erwartbare sagen!"
Wer wissen will, wie es weitergeht, muss in die USA gucken. Dort sind die meisten Universalist*innen heute im rechten Lager gelandet. Bei den Demokraten dagegen ist identity politics mittlerweile Mainstream. Darum hat es nur sechs Wochen seit Bidens Amtseinführung gedauert, bis in Deutschland selbst die linke Politik im Vergleich schon wieder so weiß, rückständig und verpennt aussieht, wie 2015.
Identity politics ist aber vor allem Politik. Wenn wir etwas verändern wollen, müssen wir Allianzen bauen und uns nicht hauptsächlich an Leuten abarbeiten, die weiterhin erwartbar das Erwartbare sagen! Gute Wahlkämpfende wissen, dass es sich am Marktstand nicht lohnt, Leute überzeugen zu wollen, die deine Politik nicht leiden können. In der Zeit, die du damit verplemperst, hast du zehn Leute, die dich mögen, davon überzeugt zur Wahl zu gehen. Auch die Ressource „Empörung“ ist erschöpflich.
Im „Bildnis des Dorian Gray“ lässt Oscar Wilde Lord Henry sagen: „Ein Mann kann bei der Wahl seiner Feinde nicht vorsichtig genug sein.“ Und eine Freundin aus der CDU – ja, da hab‘ ich auch welche – hat mir mal den Satz beigebracht: „Rechte wollen Macht haben, Linke wollen Recht haben.“
Würden wir beides beherzigen, kämen wir ein paar wesentliche Schritte weiter.
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#queer#Identitätspolitik#Actout#Bewegungsmelder