Kommentar: HIV und Sexualität

Wie hat sich schwuler Sex verändert?

15. Dez. 2021 Jeff Mannes
Jeff Mannes ist Sozialwissenschaftler, Referent, Stadtführer über Berlins sexuelle und queere Geschichte und freier Autor

In den vergangenen 40 Jahren hat sich das Gesicht von HIV deutlich gewandelt: In medikamentöser Therapie können HIV-Positive gut und lange leben, mit PEP, PrEP und TasP gibt es neue Möglichkeiten, um sich vor einer Infektion zu schützen. Doch welchen Einfluss hatten all diese Entwicklungen auf schwulen* Sex? Jeff Mannes kommentiert

Anfang 2012 wurden Stefan und ich ein Paar. Damals lebte ich noch in Luxemburg, unsere Beziehung hielt, bis ich Ende 2014 nach Berlin zog. Stefan war damals einer der wenigen Menschen, die radikal offen mit ihrem positiven HIV-Status umgingen. Das Swiss- oder EKAF-Statement war da noch nicht einmal vier Jahre her, ich hörte seinerzeit zum ersten Mal davon.

EKAF, das stand für „Eidgenössische Kommission für Aids-Fragen“. Das Schweizer Gremium war die erste wissenschaftliche Organisation, die 2008 offiziell verkündete, was viele HIV-Ärzt*innen schon wussten: Wenn Menschen mit HIV unter einer erfolgreichen antiretroviralen Therapie sind und die Viruslast infolgedessen kontinuierlich unter der Nachweisgrenze liegt, dann können diese Menschen beim Sex das HI-Virus nicht mehr weitergeben – auch nicht ohne Kondom. Eine Revolution!

Neue „Welle der Sorglosigkeit“

Wie radikal diese Revolution war, begriff ich erst nach und nach. Für mich war dies erst einmal eine erfreuliche Nachricht aus der Wissenschaft, der ich auch gleich vertraute. Denn es war ja Wissenschaft. Heute, in Zeiten einer neuen Pandemie und um sich greifender Verschwörungsideologien, verstehe ich, dass dies nicht selbstverständlich ist. Damals lernte ich schnell, wie radikal dieses EKAF-Statement war: Viele Menschen waren überhaupt nicht bereit, diese wissenschaftliche Nachricht so einfach zu akzeptieren. Man befürchtete eine neue „Welle der Sorglosigkeit“, als wäre Sex, ohne sich gleich krank vor Sorgen zu machen, etwas Schlechtes.

Das lag natürlich nicht nur an Wissenschaftsfeindlichkeit. Aids hat uns als Community und Gesellschaft unglaublich geprägt. Bis 1996, dem Jahr der Einführung der antiretroviralen Therapie, starben unzählige Menschen aus unseren Wahlfamilien. Das sind berechtigte Ängste und Emotionen, die nicht so leicht durch eine rationale Meldung aus der Wissenschaft verschwinden. Hinzu kam die bis heute andauernde Moralisierung von Sex und HIV/Aids. Daran haben auch die PEP, der im EKAF-Statement erklärte Schutz durch Therapie (TasP), sowie die später folgende PrEP wenig geändert.

Kondom als moralischer Imperativ

Mit großer Mühe mussten die Aids-Hilfen weltweit in den 1980ern das Kondom als Präventionsbotschaft gegen reaktionäre, erzkonservative Politiker*innen und ihre Forderungen nach Enthaltsamkeit außerhalb der monogamen, cis-heterosexuellen Ehe durchsetzen. Leider entwickelte sich das Kondom darauffolgend aber bei einigen zu einem moralischen Imperativ. Sex mit Kondom gleich gut, Sex ohne Kondom gleich schlecht. Menschen, die Sex ohne Kondom betreiben, wurden zu den neuen „schlechten Queers“ oder „bösen Schwulen“.

Und das sollte jetzt alles plötzlich mit dem EKAF-Statement vorbei sein? Natürlich nicht … Ich engagierte mich schon damals für Aids-Hilfen in Luxemburg und Deutschland. Die Empörung schlug uns so entgegen, als hätte man mit einem brennenden Stab in ein Wespennest gestochen. Wie kann man nur so unverantwortlich sein und sagen, dass Menschen mit HIV (in erfolgreicher Therapie) Sex ohne Kondom haben können? Um die Gemüter wenigstens ein bisschen zu beschwichtigen, hieß es anfangs vielerorts, das gelte nur für monogame Paare. Klang sehr moralisierend, war es auch.

Sex ohne Angst

Aber die Revolution hatte begonnen. 2012 folgte dann die PrEP. Seitdem erleben wir die erste Generation queerer Männer*, die Sex wieder ohne Angst erleben können. Die nagenden Fragen – „Was, wenn das Kondom reißt?“, „Was, wenn er herausfindet, dass ich positiv bin?“, „Wird mein Sex mich todkrank machen?“ – verschwinden für manche langsam. Aus ersten Befragungen wissen wir, dass viele Menschen sich beim Sex nun fallen lassen und entspannen können. Etwas, das sie vorher nie konnten. HIV ist heute kein Todesurteil mehr, und den Schutz vor HIV müssen wir nicht mehr zwingend an einem Kondom festmachen, das reißen kann, oder in Einklang mit sexuellen Wünschen bringen, bei denen das Kondom vielleicht im Weg sein könnte. Das Kondom hat weiter seine Daseinsberechtigung, aber Schutzmethoden haben sich diversifiziert.

Sex ist heute nicht frei von Sorgen, Scham und Angst. Aber er ist für manche ein wenig sorgloser, ein wenig befreiter geworden. Und das ist auch gut so.

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