Wenn Desinformation zum Gesetz wird: „LGBTIQ*-Propaganda“-Verbot in Bulgarien
Das bulgarische Parlament verabschiedete Anfang August einen Gesetzesentwurf der rechtspopulistischen Partei Vazrazdhane, der „LGBTIQ*-Propaganda“ in der Schule verbietet. SIEGESSÄULE-Autor Christian Bojidar Müller beleuchtet die Rolle von Desinformation im aktuellen politischen Klima und sprach darüber mit LGBTIQ*-Aktivist*innen
Am 7. August verabschiedete das bulgarische Parlament eine Gesetzesänderung, die „Propaganda, Förderung oder Anstiftung in irgendeiner Weise“ von Ideen im Zusammenhang mit „nicht-traditioneller sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität” in Schulen verbietet. Vage Formulierungen wie „in irgendeiner Weise“ und „nicht-traditionelle sexuelle Orientierung“ lassen bei Für- und Gegensprecher*innen viele Fragen offen: Gilt schon ein Coming-out in der Schule jetzt als Propaganda?
Wenige Tage nach der Verabschiedung des Gesetzes unterzeichnete auch Ministerpräsident Rumen Radev den queerfeindlichen Vorstoß, wodurch er in Kraft trat – trotz massiver Kritik von Seiten der Europäischen Union und des Europarats. Es ist bereits der dritte Anlauf der rechtsextremen, pro-russischen Partei Vazrazhdane („Wiedergeburt“), dieses Gesetz durch das Parlament zu bringen. Überraschend ist, dass zahlreiche andere Parteien das Gesetz unterstützen, darunter auch die regierende, konservative GERB-Partei („Bürger für die europäische Entwicklung Bulgariens”). Eine Partei, die sich in ihrem Namen auf europäische Werte beruft, unterstützt nun ein Gesetz, das diese Werte untergräbt. Queerfeindliche Hetze im Namen des Jugendschutzes scheint Parteien quer durchs politische Spektrum zu vereinen.
Bulgarien geht im Oktober in die siebte Parlamentswahl innerhalb von drei Jahren. Das südosteuropäische Land ist politisch instabil und damit ein fruchtbarer Nährboden für pro-russische Desinformationskampagnen, die die politischen Verhältnisse nur noch weiter destabilisieren.
Ein Schritt vor, zwei zurück...
Dabei sah die queerpolitische Lage in Bulgarien noch im Juli 2023 vielversprechend aus: Nach Druck von der EU und Menschenrechtsorganisationen verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das erstmals queerfeindliche Hassverbrechen anerkannte und die Strafen für homofeindlich motivierte Gewaltverbrechen verschärfte. „Die Gesellschaft scheint zumindest zu verstehen, dass Homosexuellen universelle Menschenrechte zustehen“, erklärt Robin Zlatarov von der Bilitis Foundation gegenüber SIEGESSÄULE. Bilitis ist die älteste LGBTIQ*-Organisation in Bulgarien.
Diese positive Entwicklung wird nicht nur von dem neuen queerfeindlichen Gesetz überschattet, sondern auch von der prekären Lage, in der sich vor allem trans* Personen in dem Land befinden: „Wenn es um trans* Menschen geht, ist die Sichtbarkeit noch sehr gering,“ so Zlatarov.
„Wenn es um trans* Menschen geht, ist die Sichtbarkeit noch sehr gering.“
Das Thema Transgender bzw. „Gender“ beschäftigt die bulgarische Mehrheitsgesellschaft spätestens seitdem das Verfassungsgericht die Istanbul-Konvention 2018 für nicht verfassungskonform erklärte. Die Istanbul-Konvention 2018 ist ein Abkommen des Europarats zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Weil das Abkommen den Begriff „Gender“ nutzte, lehnte es 2021 das bulgarische Verfassungsgericht ab. Stattdessen schrieb das Gericht nun Geschlecht als grundsätzlich biologisch und binär fest. Seitdem berufen sich weitere Gerichte und Behörden auf dieses Urteil und lehnen auf dieser Grundlage geschlechtsangleichende Maßnahmen oder Personenstandsänderungen ab.
Ein politisches Klima, in dem trans* Personen zur zentralen Zielscheibe gemacht werden, begünstigt einen queerfeindlichen Backlash, wie er sich nun in dem „LGBTIQ*-Propaganda“-Verbot äußert. „Der ganze Diskurs um die Istanbul-Konvention drehte sich um diese angsteinflößende Kreatur ‚das Gender‘,“ erklärt Zlatarov. „Es gibt also einen sehr angeregten Gender-Diskurs, nur leider meist sehr negativ besetzt.“ Jüngstes Beispiel ist die Hetze gegen die (cis-geschlechtliche) Boxerin Imane Khelif bei den Olympischen Spielen, in die auch einige bulgarische Spitzenpolitiker*innen begeistert mit einstimmten.
Ein Sturm der Desinformation
Um die Beweggründe für die Gesetzesreform besser zu verstehen, habe ich mit meiner Verwandten in Bulgarien gesprochen, die das Gesetz befürwortet und früher für die nationalistische Partei Vazrazhdane kandidierte. Sie hat darum gebeten, im Artikel nicht namentlich genannt zu werden. In ihrer Wahrnehmung gehe es um den Schutz vor einem „Trend“, der Kinder dazu verleite, von ihrer natürlichen sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identität abzuweichen und irreversible medizinische Eingriffe vorzunehmen.
Die zweifache Mutter räumt zumindest ein, dass „genau definiert sein müsse, was mit Propaganda gemeint ist.“ Das bloße Sprechen über LGBTIQ*-Themen gehört für sie nicht dazu: „Queere Kinder sollten ihre Neigung äußern dürfen, und Lehrer sollten das akzeptieren.“ Sie findet außerdem, dass queere Autor*innen wie Oscar Wilde weiterhin Teil des Lehrplans sein sollten. Im Laufe des Gesprächs fanden wir einige gemeinsame Standpunkte, was die mentale und körperliche Unversehrtheit von Menschen jeglicher sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität betrifft.
Das Gespräch illustriert jedoch vor allem, wie der Begriff „Propaganda“ verschieden und widersprüchlich ausgelegt werden kann. Die Interpretation meiner Verwandten scheint vergleichsweise gemäßigt, selbst wenn sie auf transfeindlicher Desinformation beruht. Währendessen sprechen die Handlungen anderer Parteimitglieder eine deutlichere Sprache: Kurz nach dem Beschluss hat der Landesverband von Vazrazhdane in der Hafenstadt Varna eine „Schwarze Liste“ mit den Namen von 26 Lehrer*innen veröffentlicht, die eine Petition gegen die Gesetzesänderung unterschrieben haben. Nationale Onlinemedien berichteten umfangreich darüber, ohne die Namen unkenntlich zu machen.
„Wir beobachten in Europa und weltweit, dass pro-russische und rechte Parteien in letzter Zeit vermehrt Desinformationen über LGBTIQ*-Menschen verbreiten.“
Die Idee eines vermeintlichen Trends, der Kinder queer machen würde, deckt sich mit den Narrativen großangelegter internationaler Desinformationskampagnen, wie ein ausführlicher EU-Bericht zu FIMI (Foreign Information Manipulation and Interference) von 2023 zeigt: „Von 31 LGBTQ*-FIMI-Fällen, die zwischen Juni 2022 und Juli 2023 identifiziert wurden, hatten fast 80 Prozent der Narrative das Ziel, LGBTIQ*-Gemeinschaften herabzuwürdigen“, heißt es in dem Bericht. Mehr als die Hälfte der Fälle wurde Russland zugeschrieben.
LGBTIQ*-Organisationen kennen dieses Problem schon: „Wir beobachten in Europa und weltweit, dass pro-russische und rechte Parteien in letzter Zeit vermehrt Desinformationen über LGBTIQ*-Menschen verbreiten“, bestätigt Bellinda Dear von ILGA Europe gegenüber SIEGESSÄULE. Ein häufiges Ziel sei, Politiker*innen und internationale Institutionen zu diskreditieren. „Auch wenn sie selbst nichts gegen queere Menschen haben, trauen sich Politiker dann nicht mehr, klare Unterstützung für die Community zu äußern, um keine Stimmen zu verlieren.“
Simeon Vassiliev von der queeren, bulgarischen NGO GLAS Foundation stellt klar, dass es nicht wirklich um die Sorge vor „Propaganda” geht, sondern darum, der Bevölkerung den Eindruck zu vermitteln, ihre Kinder seien bedroht. „Es geht darum, die Stimmung gegen die LGBTIQ*-Community anzuheizen, und GERB macht mit, um rechte Wähler*innen zu gewinnen“, so Vassiliev.
Von Bayern bis Bulgarien
Am 14. August versammelten sich etwa 30 Menschen vor der bulgarischen Botschaft in Berlin, um gegen den Beschluss des Parlaments zu demonstrieren. „Wir Bulgaren, die außerhalb der Grenzen leben, wollen, dass unsere Regierung Entscheidungen trifft, die uns motivieren, zurückzukehren“, erklärte Niya, die Organisatorin der Demonstration und Studentin an der TU Berlin, über ein Megafon.
Niya ist dem Aufruf der Initiative LGBTIQ+ Bulgarians abroad gefolgt, die weltweit Proteste organisiert, um die Aufmerksamkeit der bulgarischen Diaspora auf die umstrittene Gesetzesänderung zu lenken. „Propaganda in meiner Schulzeit habe ich nie wahrgenommen“, sagt die Studentin. „Soweit ich weiß, sind LGBTIQ*-Themen auch bisher nie Teil des Lehrplans gewesen.“ Auch für die bulgarische Botschaft in Berlin scheinen LGBTIQ*-Rechte kein Thema zu sein: Das Telefon ist dauerbesetzt, auf E-Mails wird nicht reagiert.
Die queerfeindliche Rhetorik ist auch außerhalb von Bulgarien spürbar: Im März diesen Jahres ließ sich die CDU in Bayern zu einem überflüssigen „Gender-Verbot“ in der Sprache hinreißen, wahrscheinlich um rechten Wähler*innen zu hofieren. Auch das ist das Ergebnis beharrlicher Desinformationskampagnen, die Befürwortenden von inklusiver Sprache unterstellen, eine „Sprach-Diktatur“ errichten zu wollen.
Die Nazi-Aufmärsche zu den CSDs in Bautzen und Leipzig erinnern an die „Anti-Prides“ in Osteuropa. „Diese gewinnen an Momentum, während wir damit beschäftigt sind, gegen ihre Desinformation anzureden“, sagt Vassiliev von GLAS. Zudem lägen derzeit ähnliche Gesetzesentwürfe nach russischem Vorbild in Litauen und Rumänien vor, wovor mehrere NGOs, darunter ILGA Europe, GLAS und Bilitis, warnen.
„Wir brauchen dringend eine Verstärkung unserer Stimmen!“
In Bulgarien liegt der Fokus der LGBTIQ*-Organisationen derzeit auf Community-Care, um den Schock und die Angst vor den Konsequenzen des Gesetzes abzufedern. „Wir brauchen dringend eine Verstärkung unserer Stimmen“, appelliert Robin Zlatarov an die internationale Community. „Denn dies wird eine Realität sein, in der wir jetzt offiziell leben. Wir werden weiter protestieren, wir werden weiter darüber reden. Also würden wir uns freuen, wenn die Welt uns nicht vergisst und nicht stumm bleibt.“
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