Was zur Hölle haben wir uns dabei gedacht!
Der queere Berliner Fotograf Victor Hensel-Coe ist in London aufgewachsen. Für SIEGESSÄULE erklärt er, warum der Brexit für ihn so schmerzhaft ist
Nach langem Ringen hat der Brexit nun doch stattgefunden: Am 31. Januar scheidet das Vereinigte Königreich aus der Europäischen Union aus.
Der Brexit begann als radikales Wahlversprechen und verwandelte sich in den letzten dreieinhalb Jahren in eine Shitshow, wie sie in dieser Form noch niemand zuvor gesehen hat. Das Ergebnis des Brexit-Referendums von 2016 war für viele herzzerreißend und verwirrend – mittlerweile, nachdem die konservative Partei sich ihren Weg zum Sieg erkämpft hat, ist die Stimmung vor allem ängstlich und besorgt.
Ich bin in London geboren und aufgewachsen. Für mich steht die britische Hauptstadt für Vielfalt, sie ist der Geburtsort des Punk, und in ihrem Stadtteil Soho, dem Gay Village im Londoner West End, entdeckte ich meine queere Identität. Für mich ist der Brexit so schmerzhaft, weil er all dem widerspricht, womit ich, und mit mir viele andere Londoner*innen, sich identifizieren. Der Brexit steht für eine Ideologie, bei der es um Ausschluss geht anstatt um Inklusivität, um Eigeninteressen anstatt um Gemeinschaft und vor allem darum, Mauern zu errichten, anstatt sie abzubauen.
Ich stand am 30. Jahrestag des Mauerfalls am Brandenburger Tor. Es war toll mitzubekommen, wie die Menschen dieser Stadt ihre Freiheit, Einigkeit und das Ende der politischen Unterdrückung feierten. Gleichzeitig machte es mich traurig, weil ich daran dachte, dass eine Mehrheit der Menschen in meinem Heimatland am liebsten eine Mauer zwischen Großbritannien und dem europäischen Festland errichten würden.
Ich erinnere mich noch an die Tage vor dem Brexit-Referendum: in den Nachrichten sah ich Bilder aus Berlin, Paris und einigen anderen großen EU-Städten, in denen Menschen gegen den Brexit auf die Straße gingen und deutlich signalisierten: „Geht nicht! Wir sind eine Familie! Wir lieben euch!“ Ich könnte mir vorstellen, dass sich viele Leute gerade hier in Berlin am nächsten Tag fragten, was zur Hölle wir uns dabei gedacht haben.
Für die in Großbritannien und in der EU lebenden Menschen, die gerne reisen, sich besuchen oder Geschäfte untereinander machen wollen, werden die neuen Barrieren langfristige emotionale, soziale und wirtschaftliche Konsequenzen haben. Einige aus meinem Freundes- und Familienkreis sind Musiker*innen – bereits jetzt schon sind sie mit deutlich mehr Problemen konfrontiert, wenn sie Konzerte in der EU spielen wollen. Hinzu kommt, dass Menschen mit rechten und nationalistischen Ansichten diese immer unverblümter aussprechen, ohne Angst, dafür zurechtgewiesen zu werden. Es gibt eine Zunahme von LGBTIQ*-feindlichen Straftaten und ein Freund von mir ist wegen des zunehmendem Antisemitismus kürzlich von Großbritannien nach Israel gezogen. All das sind Folgen der Brexit-Atmosphäre.
Ich betrachte mich selbst als jemanden, der nach Berlin ins „Brexil“ gegangen ist. Die Stadt mag ihre Fehler haben, aber für mich ist sie immer noch ein Wunderland und ich bin glücklich hierher gekommen zu sein. Gerade noch rechtzeitig!
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