Reportage

Was macht Social Distancing mit der queeren Community?

20. Juni 2020 Jeff Mannes
Bild: Ivan Kuleshov

Auch wenn sich die Auflagen zur Bekämpfung des Coronavirus zu lockern beginnen, bestimmt das sogenannte Social Distancing weiterhin unser Leben. Wichtige Orte der Begegnung für LGBTI* bleiben geschlossen, anderthalb Meter Abstand zu anderen Menschen lautet bis auf wenige Ausnahmen die Devise auf nicht absehbare Zeit. Doch was bedeutet diese mitunter extrem belastende Situation speziell für queere Menschen? SIEGESSÄULE-Autor Jeff Mannes mit einer Bestandsaufnahme

„Eine soziale Gesellschaft ohne Körperkommunikation kann es gar nicht geben, weil in der kleinsten Zelle der Gesellschaft, in der Familie, immer Körperkommunikation stattfindet.” So zitierte im Mai Zeit Online den Psychologen und Haptikforscher Martin Grunwald. Ohne Berührung könnten Menschen nicht leben. Doch was macht Social Distancing mit LGBTI*, die oft ganz andere Formen als die Heteronorm von Familie leben und in Zeiten der Krise nicht mehr so leicht auf ihr stabilisierendes Umfeld zugreifen können?

Zeit Online problematisierte den durch das Social Distancing fehlenden Körperkontakt zwischen Menschen. Es habe einen Grund, warum es kein einziges Säugetier ohne Tastsinn gebe. Auf alle anderen Sinne könne man notfalls verzichten, aber nicht auf das Empfinden von Berührung. Ohne sie würden Menschen krank: Rücken- und Gelenkschmerzen, Panik-, Angst-, Schlaf-und Konzentrationsstörungen, aber auch psychosomatische Erkrankungen könnten die Folge eines Mangels an menschlicher Berührung sein. „Es brauchte offenbar eine Pandemie, die uns das – Achtung! – begreifen lässt”, wird der Wissenschaftler zitiert.

Diskriminierende Distanz

Vor dem Virus sind alle gleich. Doch das Social Distancing betrifft Menschen unterschiedlich. Manche gesellschaftlichen Gruppen werden davon härter getroffen als andere – und werden die Folgen dadurch wohl auch länger spüren. So auch queere Menschen, denn cis Heterosexuelle leben im Vergleich zu Queers häufiger in Familien unter einem Dach, also genau in jenen Konstellationen, in denen die Regeln des Abstandhaltens weniger streng befolgt werden müssen. Queeren Menschen sind hingegen jene Strukturen weggefallen, die ihnen als Quelle für diese lebenswichtigen Bedürfnisse gedient haben: Clubs, Bars, Freundschaften, kulturelle Institutionen, Fuck Buddys oder Wahlfamilien, die nicht unter einem Dach wohnen. Somit sind sie den negativen Auswirkungen des Social Distancing stärker ausgeliefert als die Allgemeinbevölkerung. Dabei leiden LGBTI* eh schon überdurchschnittlich häufig an Einsamkeit, Depressionen, sozialer Isolation und anderen psychischen Problemen, die nun durch die Krisensituation noch verstärkt werden können.

In einem Interview mit der taz Ende April wird der Sozialwissenschaftler Dirk Sander wie folgt zitiert: „Viele der Einschränkungen gehen von einem heteronormativen Gesellschaftsbild aus. Queere Menschen leben andere Formen von Gemeinschaft. Die Beziehungen bestehen in dieser Gruppe nicht vorrangig aus Ehe oder der klassischen Familie.” Ähnlich sieht das auch Cordula (Name von der Redaktion geändert), lesbisch, Single, allein lebend: Bei den Maßnahmen gegen Corona „wird von einem Bild ausgegangen, bei dem Leute in einer Familie leben, in der sie dann auch emotionalen Rückhalt erfahren oder zumindest nicht alleine sind”, meint sie. „Auch körperliche Nähe haben sie dort öfter. Die Maßnahmen sind an einem heteronormativen Lebensmodell orientiert.” Die Einschränkungen haben Cordula, nach eigener Aussage, schwer getroffen.

Singles auf Distanz

Ob queer oder nicht: Singles sind von den Einschränkungen rund um Social Distancing stärker betroffen. „In einer Partnerschaft lässt sich solch ein Lockdown viel leichter ertragen, auch wenn sich manche Paare nun mehr streiten”, meint Cordula. „Aber in solch einer Krisensituation ist es einfach besser, wenn man zu Hause jemanden hat, mit dem man sprechen kann, an den man sich anlehnen oder mit dem man Sex haben kann.” Selbst Streit wäre für sie besser als mit sich selbst sprechen zu müssen. Freundschaften seien plötzlich in der gesellschaftlichen Wahrnehmung nicht mehr so wichtig. „Es gibt eine Hierarchie: Erst kommen die Leute, mit denen man zusammenlebt, Paare und Familie. Und dann erst kommen Freundschaften, die plötzlich als Luxus gelten, auf den man verzichten kann. Darunter leide ich sehr.”

„Singles sind jetzt einsamer und müssen zum Teil wochenlang alleine in ihrer Wohnung klarkommen”, meint der Diplom-Psychologe und Suchttherapeut Arnd Bächler von der Schwulenberatung Berlin. „Als Paar, das gut funktioniert, kann man sich jetzt unterstützen und trösten. Das ist im Vergleich zu Singles ein Riesenvorteil.” Dieser Vorteil ergibt sich allerdings nur, wenn Beziehungen eben „gut funktionieren”, denn natürlich gibt es auch Partnerschaften mit häuslicher Gewalt, sei es körperlich oder auch psychisch-emotional. Diese Menschen sind jetzt einem größeren Risiko ausgesetzt. Aus Deutschland gibt es nur wenige Zahlen, aber Studien aus den USA und Großbritannien haben gezeigt, dass rund ein Drittel der LGBTI* schon eine Form von häuslicher Gewalt erlebt hat, wobei die Dunkelziffer hoch liegen könnte, denn insbesondere männlich sozialisierte Personen holen sich bei Gewalterfahrungen seltener Hilfe. Wer aber zu Hause körperlich angegriffen, psychisch manipuliert, sexuell belästigt oder emotional missbraucht wird, ist jetzt einer noch größeren Gefahr ausgesetzt.

Sexuelle Distanz

Wie bereits erwähnt, werden Menschen ohne Berührung auf Dauer krank. Während die meisten diese Feststellung wohl noch relativ leicht akzeptieren können, sieht das bei Sexualität schon anders aus. Hier werden Diskussionen, insbesondere auch in Zeiten von Corona, schnell moralisch aufgeladen, obwohl einvernehmliche Sexualität auch eine Form gesunder menschlicher Berührung ist. Gerade unter schwulen, bisexuellen und anderen Männern*, die Sex mit Männern* haben, ist Sexualität Teil des soziokulturellen Gefüges. „Während Lesben sich eher in Passivität, in eine Art innere sexuelle Immigration zurückziehen und sich sexuell abschalten, gehen Schwule jetzt eher in die Offensive“, findet Cordula. „Lesben sorgen sich schlechter um ihre Sexualität. Das liegt auch am Patriarchat, das Mädchen bereits eintrichtert, dass ihre Bedürfnisse weniger zählen. Jungs hingegen werden darin bestärkt, ihre Bedürfnisse zu verfolgen.“

„Auch wenn es jetzt in medizinischer Hinsicht sinnvoll ist, seine direkten sozialen Kontakte zu reduzieren oder zu minimieren, ist es generell gesund, seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen“, betont der Sexualpädagoge Marco Kammholz. Deswegen fände er es wichtig, auch darüber zu reden, wie wir jetzt unsere sexuellen Bedürfnisse erfüllen können, anstatt nur über Kontaktbeschränkungen zu sprechen. „Was mir zudem auffällt, ist, dass wir aktuell in ein vorliberales Zeitalter zurückfallen. Plötzlich gilt die Sexualität in der Partnerschaft als diejenige, die als einzige fürsorglich und moralisch richtig ist, besonders wenn die Partner*innen zusammenwohnen. Das erinnert doch an Zeiten, in denen nur Sex in der Ehe als moralisch vertretbar angesehen wurde.“

„Schwule Sexualität ist ein Feld, in dem Menschen wesentlich leichter ein schlechtes Gewissen haben, als wenn sie zum Beispiel ohne Mundschutz in einer vollen U-Bahn fahren“, erklärt der Politikwissenschaftler und Philosoph Karsten Schubert im Interview mit SIEGESSÄULE. Dies liege daran, dass „schwuler Sex wesentlich mehr mit Scham besetzt ist – von der Heteronormativität abweichende Sexualität ist immer noch negativ stigmatisiert.“

Es wäre sinnvoll, jetzt über Strategien der Risikoreduzierung nachzudenken – zum Beispiel mit wie vielen Menschen man generell noch Sex hat, ob man die Zahl reduzieren kann und will, wie viel Kontakt zu anderen Menschen die Sexpartner*innen haben u.s.w. Gleichzeitig sorgt sich Kammholz aber auch um die Fortschritte, die wir in den letzten Jahrzehnten gemacht haben.

„Ich habe aktuell viel weniger Sex“, berichtet der Single und schwule Tiermediziner Tom (Name von der Redaktion geändert), der auch berufliche Erfahrung mit Coronaviren hat. Ganz verzichten kann und möchte er auf Sex aber nicht. „Ich habe meine beiden Fuck Buddys in der Nachbarschaft, mit denen ich mich weiter treffe. Das ist mir auch wichtig als Ausgleich, denn ich muss aktuell noch mehr arbeiten als sonst.“ Tom hat eine Vorerkrankung und zählt damit zur Corona-Risikogruppe. Er hat also auch ein persönliches Interesse am Schutz vor Covid-19. „Obwohl ich Tierarzt bin, obwohl ich die Gefahren von Corona sehr gut kenne und obwohl ich zur Risikogruppe gehöre, spielt meine psychische Gesundheit auch eine Rolle.“ Sexualität weiter ausleben zu können, wenn auch eingeschränkt, hilft ihm, die Balance zu halten.

„Menschen sind und bleiben auch in der Krise sexuelle Wesen“, betont Sander in der taz. Der Schwulenreferent bei der Deutschen Aids-Hilfe erklärt, dass für manche eben der Sexpartner, der um die Ecke wohnt, das Äquivalent zu Familie sei. Es könne deswegen nicht die Lösung sein, zu sagen, Singles hätten jetzt keinen Anspruch mehr auf Sex. Das hat übrigens auch die niederländische Regierung erkannt, deren Nationales Institut für Öffentliche Gesundheit und Umwelt im Mai den Singles des Landes die Empfehlung aussprach, sich für die Zeit der Pandemie einen „Kuschel- oder Sexbuddy“ zu organisieren, da auch Singles das Bedürfnis nach körperlicher Nähe haben und durch Kommunikation über Schutzmöglichkeiten schließlich Risikomanagement betrieben werden könne.

Die Nähe zu Aids

Trotz aller deutlicher Unterschiede wurde die Situation im Zuge der Corona-Pandemie bereits oft mit den Zeiten der Aids-Krise verglichen. „Ich sehe durchaus Parallelen“, meint Psychotherapeut Bächler, der 56 Jahre alt ist und die 80er entsprechend bewusst miterlebt hat. „Es ist ein neues Virus, wegen dem viele Menschen sterben und über das man noch wenig weiß. Zudem war es damals wie heute Dauerthema, über das auch manche Medien Dauerängste geschürt haben.“ Ein bedeutender Unterschied sei aber, dass heute alle vom Coronavirus betroffen seien. „Diese gemeinsame Betroffenheit lässt mich hoffen, dass man viel schneller einen Impfstoff oder ein Medikament findet als damals bei Aids, wo ganz lange relativ wenig passiert ist. Damals wurden die Schwulen auch zum Sündenbock erklärt, während man heute ganz viel Solidarität erlebt.“

Diesen kollektivierenden Aspekt von Corona sieht auch Kammholz: „Im Vergleich dazu trifft HIV gesellschaftliche Randgruppen viel stärker.“ Trotz allem sieht er auch Parallelen, nämlich insbesondere in der Problematisierung des körperlichen Kontakts. „Der Körper wird sehr stark auf seine Eigenschaft als Virusträger reduziert. Dadurch erhält körperliche und damit auch sexuelle Nähe den Charakter des Fragwürdigen oder Unerlaubten.“

„Schwule haben durch Aids gelernt, Sexualität und Krankheit im Verhältnis zu sehen“, betont Cordula. Dem ewigen Bild des sexuell verantwortungslosen Schwulen zum Trotz findet sie, dass Schwule wissen, wie man mit Safer Sex verantwortungsvoll umgeht; etwas, das der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker auch schon öfters betonte, wenn er auf Zahlen zum Kondomgebrauch unter Schwulen im Vergleich zu Heterosexuellen verwies. „Wenn verantwortungsbewusste, erwachsene Menschen gemeinsam Sex haben, ist es besser, als wenn sie einsam zu Hause sitzen“, bekräftigt Cordula. Auch der Sexualpädagoge Kammholz bestätigt: „Schwule und andere Queers haben die Aids-Ära und ihre Nachwirkungen erlebt. Es gibt also ein spezifisch schwules bzw. queeres Wissen, das jetzt in dieser Pandemie als Ressource dienen kann.“ Dazu gehöre auch, sich einander zuzuwenden und umeinander zu kümmern.

Solidarität während der Distanz

Gerade Letzteres ist jetzt besonders wichtig. Denn auch wenn der Psychologe Bächler die Erfahrung gemacht hat, dass viele momentan noch erstaunlich gut mit der Krise zurechtkommen, gibt es auch einige, bei denen psychische Probleme während dieser Pandemie zunehmen. Solidarität sowie emotionale und Care-Arbeit gewinnen deswegen zunehmend an Bedeutung.

Solidarität unter LGBTI* ist jetzt umso wichtiger, weil die typischen Räume der Community weggefallen sind. Die Clubs waren die Ersten, die schließen mussten, und werden die Letzten sein, die wieder öffnen dürfen – wenn sie denn diese Zeit überleben. Was wird also von der Community übrig bleiben, wenn die Krise vorbei ist? „Es gehört zu einem guten Leben dazu, dass man auch körperlich zusammenkommen kann“, mahnt Kammholz. „Egal ob für sexuelle, kulturelle oder politische Begegnungen. Diese sind ganz entscheidend für queere Subkulturen und deswegen ist die aktuelle Situation, besonders für stark marginalisierte oder entrechtete LGBTIQs eine Katastrophe. Online-Angebote können zwar auch schöne Momente, aber eben keinen Ersatz bieten.“

Es wäre wichtig, dass die Community diese Pandemie überlebt, denn es ist gerade dieses Netzwerk, bestehend auch aus Wahlfamilien und selbst geschaffenen Schutzräumen außerhalb der Heteronorm, das so vielen Menschen einen emotional und mental sicheren Hafen bietet und nun fast gänzlich fehlt. LGBTI*, die generell privilegierter sind, die zum Beispiel finanzielle Sicherheit haben, in einer gesunden Partnerschaft leben, nicht von Wohnungsnot betroffen sind und sich deswegen auch psychisch leichter stabil fühlen können, haben die Möglichkeit, jetzt anderen Queers zu helfen. Bächlers Hoffnung ist deswegen eindeutig: „Es wäre mir ein großes Anliegen, dass alle, die jetzt noch über genügend Einkommen verfügen, solidarisch sind und spenden, damit die Community weiterexistieren kann.“

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