Vom Sinn der Sinnlichkeit
In queeren Communities gibt es viel zuwenig positive Debatten über Sex und Sinnlichkeit, findet SIEGESSÄULE-Kolumnist Dirk Ludigs. Stattdessen werde sich bei Gesprächen über Lust hinter akademischen Diskursen versteckt
Seit einem halben Jahr schon zwingt uns die Corona-Pandemie, unser Bedürfnis nach Nähe und Sexualität in ein neues Gleichgewicht mit den Risiken und Nöten zu bringen, die sich aus der Ansteckungsgefahr und den Einschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens ergeben. Manche kommen damit besser klar, andere weniger. Aber alle spüren den Mangel an Nähe, an Berührungen, an Zuneigung und an Sex, der sich über unser Leben gelegt hat.
Queere Menschen leiden mehr als andere darunter, wenn Sex-Orte geschlossen bleiben, wenn sexuelle Netzwerke, in gewöhnlichen Zeiten geknüpft, unter der Last der Pandemie zerreißen. Wenn Sex sich wieder neu und massiv mit der Angst vor Krankheit verbindet!
Mit ist in diesen Monaten noch etwas aufgefallen: Wie wenig doch unsere queeren Communities für diese Herausforderung an das Allermenschlichste, an Nähe, Berührungen und Sex, vorbereitet waren. Wie wenig wir in den letzten Jahren – vor allem zwischen den Buchstaben – gelernt und eingeübt haben, respektvoll, aber auch lustvoll über diese für queere Menschen so zentralen Themen zu sprechen.
„Eine Schwemme an nahezu entmenschlichter Pornographie ersetzt aufklärerische Bilder und positive Debatten über Sexualität und Sinnlichkeit.“
In den Neunzigern war ich über viele Jahre Redakteur der Sendung „liebesünde“, einem Fernsehmagazin über Sexualität, das wöchentlich bei ProSieben ausgestrahlt wurde. Damals war unser Ziel, journalistisch so und nicht anders über Sex zu berichten, wie wir es selbstverständlich auch über Politik oder Kultur tun würden. Heute wäre eine solche Sendung im Free-TV längst wieder undenkbar. Dafür sind die Zeiten erneut zu prüde geworden – einerseits! Andererseits ersetzt eine Schwemme an nahezu entmenschlichter Pornographie aufklärerische Bilder und positive Debatten über Sexualität und Sinnlichkeit und prägt ganze Generationen mit zunehmend unerfüllbaren, oft gewaltvollen und wenig wünschenswerten Vorstellungen davon, wie Sex auszusehen hat.
Eine gesamtgesellschaftliche Schieflage, die ich in den queeren Communities verschärft wiederfinde. In den schwulen und lesbischen Bewegungen der Siebziger bis Neunzigerjahre waren Gespräche über Sex zwar noch allgegenwärtig, aber nur selten miteinander und unter erheblich unterschiedlichen Vorzeichen. Platt gesagt: Schwule sprachen über sexuelle Befreiung, Lesben über sexualisierte Gewalt. Je „queerer“ unsere Communities werden, umso weniger reden wir untereinander überhaupt noch über Sex, Erotik, Sinnlichkeit und queere Spiritulität.
Ausgerechnet jene Minderheiten, die sich über Körper, Geschlecht und sexuelle Orientierung definieren, verlieren zusehends die Fähigkeit, sich über ihre ureigensten Themen sinnstiftend auszutauschen.
„Da muss sich niemand im direkten oder übertragenen Sinn ,nackt machen'.“
Das hat auch mit der zunehmenden Akademisierung alles Queeren zu tun. Es ist angesagter, über Kulturtheorien zu streiten, als über die Frage, wie ich ein erfülltes Sexleben hinkriege. Und wenn über Fragen wie Begierde verhandelt wird, dann sind es erneut akademische Fragen, wie Begierde ist oder nicht ist oder zu sein hat, die mit Vorliebe verhandelt werden. Da lassen sich Fettnäpfchen quellensicher umschiffen, da muss sich niemand im direkten oder übertragenen Sinn „nackt machen“.
Queere Bewegung wird so immer mehr zu einem Kopf ohne Unterleib.
Queersein speist sich aber nicht nur aus akademischen Debatten. Das Erfahren und Erleben queerer Körper, ihrer Sexualität, Spiritualität und Sinnlichkeit ist eine über die Zeiten hinweg mindestens ebenso, wenn nicht um vieles mehr Identität stiftende Wurzel allen Queerseins, egal ob schwul oder lesbisch, bi, trans* oder inter*, poly, enby, bdsm oder pan, selbst im Asexuellen manifestiert sich das. Doch die Erlebnisräume für solchen Austausch, vor allem jenseits des Kommerzes, wurden auch schon vor Corona immer weniger.
„Wir müssen wieder lustvoller werden in unseren Gesprächen über Lust.“
Dabei könnte gerade das offene Gespräch zu Sex und Sinnlichkeit über die unterschiedlichen queeren Communities hinweg ungeheuer gewinnbringend sein. Die schwule Welt braucht dringend eine Debatte über sexualisierte Gewalt unter Männern, dringend eine Debatte über den grassierenden Körperfetischismus. Andererseits könnten FLTI*–Zusammenhänge von den Erfahrungen schwuler Männer profitieren, wenn es darum geht, gesellschaftlich verfemte Formen von Körper oder Sexualität positiv für sich zu wenden, Sexualität zu befreien und die gesunden und gesundmachenden Aspekte von Nähe, Sex und Sinnlichkeit stärker zu beleuchten – auch und gerade unter den Bedingungen einer Pandemie.
Wir müssen wieder lustvoller werden in unseren Gesprächen über Lust. Ich würde mir wünschen, wir könnten gerade die Corona-Zeiten nutzen, um diesen Prozess anzustoßen, die unterschiedlichen blinden Flecken in unseren internen Debatten um Sex, Spiritualität und Sinnlichkeit mit anderen Communities zusammen besser zu beleuchten. Und dabei neu lernen, wie wir Sex und Sinnlichkeit mit und ohne Pandemie adäquater, erfahrbarer und (er-)lebbarer machen. Nicht nur theoretisch, auch ganz praktisch. Ich bin mir sicher, wenn das gelingt, dann schaffen wir auch eine harmonischere, eine sinnlichere, eine bessere queere Welt.
Dirk Ludigs Kolumne „Bewegungsmelder" erscheint immer am letzten Freitag des Monats auf SIEGESSÄULE.de!
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