Volker Beck: „Morddrohungen beschäftigen mich schon mehr als 30 Jahre“
Der Grünen-Politiker Volker Beck wurde in diesem Sommer Ziel öffentlicher Morddrohungen aus dem Lager der Corona-Leugner*innen und Verschwörungsideolog*innen. SIEGESSÄULE-Redakteur Jeff Mannes sprach mit ihm über die zunehmende gesellschaftliche Polarisierung in der Corona-Krise und die Verantwortung der Zivilgesellschaft gegenüber der Demokratie
Herr Beck, in Polen gibt es die sogenannten LGBT-freien Zonen, in den USA stellen zwei Richter des Supreme Courts die Ehe für alle infrage, und in Deutschland hört man immer mehr von homo- und transphoben Gewalttaten. Wie sehen Sie die aktuelle Situation und die Zukunft von LGBTI*? Dieser aufkeimende Rechtspopulismus will eine Gesellschaft, in der LSBTIQ oftmals keinen Platz mehr haben. Das ist in Ländern mit einer anderen Rechtskultur prekärer als in Deutschland. Bei uns habe ich das Gefühl, dass mit der Verabschiedung der Ehe für alle die große demokratische Rechtspartei, nämlich die CDU/CSU, sich damit abgefunden hat. Auch wenn die AfD es versucht, daran wird man bei uns wohl nicht mit Erfolg rütteln können. In den osteuropäischen Staaten waren die Schlachten zur Gleichberechtigung von Schwulen und Lesben noch nie bis zu Ende ausgefochten. In Polen sah es zwischenzeitlich besser aus als jetzt. Heute leiden LSBTIQ dort als Sündenböcke für die Probleme der Regierung besonders unter dem Rechtsruck.
„Der aufkeimende Rechtspopulismus will eine Gesellschaft, in der LGBTI* keinen Platz mehr haben.“
Könnte die Corona-Krise Rechtsruck und Rollback von LGBTI*-Rechten beschleunigen? Durch die Corona-Krise wird etwas Spezifisches beschleunigt, was wir in diesem rechten Spektrum schon länger sehen: Der rechte Rand koppelt sich von der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung ab und entwickelt sich in die gegensätzliche Richtung. Plötzlich laufen Leute Menschen nach, die zum Mord an anderen aufrufen. Es kommt zu einer Art geistiger Lynchjustiz. Das ist besorgniserregend, auch bezüglich möglicher Gewalt. Aber ich glaube nicht, dass in Deutschland politisch die Mehrheiten so kippen könnten, dass das, was wir in den vergangenen Jahren erreicht haben, wie zum Beispiel die Ehe für alle oder die Antidiskriminierungsgesetzgebung, wieder zurückgedreht werden würden. Zumindest nicht in den kommenden zehn Jahren. Aber beim gesellschaftlichen Miteinander sieht es anders aus. Hier gibt es eben einen gesellschaftlichen Rand, wo es völlig o. k. geworden ist, Gewalt gegen Minderheiten auszuüben. Und ich habe das Gefühl, oder ich hoffe, dass die CDU/CSU mittlerweile erkannt hat, dass man diesen rechten Rand bekämpfen muss und nicht versuchen soll, ihm um der Stimmen willen hinterherzulaufen.
„Wir müssen für die Ermächtigung von Minderheiten und deren Organisationen aktiv eintreten.“
Wie sollte diese politische Bekämpfung konkret aussehen? Zum einen muss man für das Menschenbild des Grundgesetzes kämpfen. Man muss in Aufklärung und Vorurteilsbekämpfung investieren sowie für die Ermächtigung von Minderheiten und deren Organisationen aktiv eintreten. Zum anderen muss man den rechten Rand mit den Mitteln des Rechtsstaates konsequent bekämpfen und deutlich machen, dass diese Leute außerhalb der Gesellschaft stehen. Des Weiteren muss man auch Armut bekämpfen. Ich bin zwar nicht der Überzeugung, dass Armut dazu führt, dass man eher zu rechten Ideologien neigt. Aber Armut löst Angst aus. Man muss eine integrative Sozialpolitik betreiben, die deutlich macht, dass man niemanden hängen lässt. Der Sozialstaat muss sich um diejenigen kümmern, die ökonomisch gescheitert sind oder die aufgrund von Pech oder Krankheit riskieren, gesellschaftlich abgehängt zu werden. Ich verstehe zum Beispiel nicht, wie es in einem reichen Land wie Deutschland noch immer so viele Obdachlose geben kann. Das baut Ängste auf, die Rechte zum Beispiel in der Diskussion über die Rechte von Geflüchteten für sich nutzen, um Konkurrenzen herzustellen. Dann wird zum Beispiel so getan, als würde es einer armen Rentnerin besser gehen, wenn der Geflüchtete eine Scheibe Brot weniger hat.
„Man braucht Medien, denen man vertrauen kann, nicht weil sie die gleiche Weltsicht haben, sondern weil sie das gleiche Verhältnis zur Wahrheit haben.“
Das passt gut zum Thema der „gefühlten Wahrheit“. Gesellschaftlich erleben wir mit dem Rechtsruck auch eine Abkehr von wissenschaftlichen Fakten hin zum „postfaktischen Zeitalter“, wo politische und gesellschaftliche Entscheidungen nicht mehr auf Basis von wissenschaftlich nachprüfbaren Fakten, sondern auf Basis von „gefühlten Wahrheiten“ und „Fake News“ getroffen werden. Wie schätzen Sie das ein? Das ist eine größere Gefahr, als wir es uns oft eingestehen. Das ist nämlich nicht nur ein Problem bei Hygienedemos und der Corona-Leugnung. Wir erleben eine Auflösung der Unterscheidung zwischen seriösen Medien und – ja, ich nenne das mal „Irgendwas“. Dieses „Irgendwas“, also alles, was weit davon entfernt ist, ein seriöses Medium zu sein, kann potenziell die gleiche Reichweite haben wie ein sauber recherchierter Artikel oder ein wissenschaftlicher Aufsatz. Hier merkt man auch, dass unsere Schulen die Menschen bis hin zu Akademiker*innen offensichtlich nicht ausreichend mit Fähigkeiten wie Medienkompetenz und Quellenkritik ausgestattet haben. Zusätzlich haben wir auch noch keine Antwort auf die Frage gefunden – und das betrifft die SIEGESSÄULE ja auch –, wie wir es schaffen, Presseorgane zu retten. Man kann nicht ständig jede Nachricht überprüfen. Deswegen braucht man Medien, denen man vertrauen kann, nicht weil sie die gleiche Weltsicht haben, sondern weil sie das gleiche Verhältnis zur Wahrheit haben. Wenn diese verschwinden, dann ist die Grundlage unserer Gesellschaft im Bereich der demokratischen Information gefährdet und beschädigt. Am Anfang des Internets hat man ja das Bildungs- und Informationszeitalter ausgerufen. Jetzt sehen wir, dass das leider Quatsch war. Mengenmäßig gibt es zwar mehr Informationen. Qualitätsmäßig ist es aber eher das Zeitalter der massenhaften Desinformation.
„Mord wird eine reale Handlungsoption, und in den entsprechenden Echokammern wird vermittelt, andere fänden es toll, wenn ich das täte. Dadurch werden Taten wahrscheinlicher. Da erwarte ich von Polizei und Justiz ein Umdenken.“
Sie haben vorhin bereits die Polarisierung der Gesellschaft erwähnt. Im Zuge derer werden immer mehr Journalist*innen und Politiker*innen öffentlich mit dem Tode bedroht, so wie das auch Attila Hildmann mit Ihnen gemacht hat. Im Fall von Walter Lübcke wurde das sogar umgesetzt. Welche Gedanken beschäftigen Sie bei diesem Thema am meisten? Morddrohungen beschäftigen mich eigentlich schon seit mehr als 30 Jahren. Und meine erste Pistolenkugel hatte ich schon 1996 in der Post. Neu sind Morddrohungen also nicht. Das Neue ist viel eher, dass Menschen das nun kollektiv tun. Sie pusten das in ihre Social-Media- oder Messaging-Kanäle und finden Verstärkung dafür. Das ist eine zusätzliche Gefahr, weil hier eine Gruppe für sich neue Normen aufstellt, die vermitteln, Morddrohungen seien o. k. Mord wird eine reale Handlungsoption, und in den entsprechenden Echokammern wird vermittelt, andere fänden es toll, wenn ich das täte. Dadurch werden Taten wahrscheinlicher. Da erwarte ich von Polizei und Justiz ein Umdenken. In der Vergangenheit machte es durchaus Sinn, wenn die Staatsanwaltschaft sagte, sie hätten Wichtigeres zu tun, als einer Beleidigung oder Drohung nachzugehen. In Zeiten, in denen man Drohungen noch mit der Schreibmaschine schrieb oder per E-Mail verschickte, war das eine richtige Überlegung. Denn wer hat damals schon solch eine Drohung mitbekommen? Der oder die Bedroher*in und der oder die Bedrohte, sonst niemand. Heute ist das anders. Wenn der Staat demonstrativ hinnimmt, dass in bestimmten Räumen das Lebensrecht und die Gesundheit von Menschen konsequenzenlos infrage gestellt werden können, dann wird das auch öfters stattfinden. Und das verändert unsere Gesellschaft. Polizei und Staatsanwaltschaft brauchen hier mehr Ressourcen zur Bekämpfung. Denn aus diesen Worten werden Taten, das sollten wir aus Hanau und Halle gelernt haben.
„Jetzt müssen wir zeigen, dass wir aus unserer Geschichte gelernt haben.“
Was ist angesichts dessen Ihre Prognose für die Zukunft? Prognosen haben ja etwas Fatalistisches. Ich bin kein Anhänger der Prädestinationslehre. Ich plädiere eher für Folgendes: Wir dürfen nicht zuschauen, wie es sich entwickelt. Wir müssen unser Schicksal in die Hand nehmen und uns mehr einbringen. Der Staat kann nicht alles machen. Er kann Strafgesetze durchsetzen und notwendige gesellschaftliche Maßnahmen finanzieren. Aber für den Rest muss die Zivilgesellschaft, und das sind wir alle, sich verantwortlich fühlen. Dort, wo man Gewalt gegen Menschen sieht, muss man widersprechen und eingreifen. Oder zumindest die Polizei herbeirufen. Auf jeden Fall darf man die Sachen nicht einfach geschehen lassen. Der Status einer Gesellschaft setzt sich aus der Summe aller Handlungen der Menschen in dieser Gesellschaft zusammen. Wir bestimmen, was wir als legitim und illegitim betrachten oder wo wir Räume schaffen, in denen man Angst haben muss oder sich sicher fühlt. Wenn wir uns anstrengen, können wir die problematischen Tendenzen auch zurückdrängen. Wir müssen verstehen, dass die Demokratie und der Rechtsstaat Geschenke sind, die wir verteidigen müssen. Denn wenn man sie nicht verteidigt, kann man sie auch wieder verlieren. Historisch haben wir uns in der Bundesrepublik die Demokratie nicht erkämpft. Sie wurde von außen von uns verlangt und wir haben sie uns über die Zeit angeeignet. Aufgrund unserer Geschichte hatten wir lange Zeit auch keine rechtsradikale Gruppierung im Bundestag. Die haben wir jetzt. Jetzt müssen wir zeigen, dass wir aus unserer Geschichte gelernt haben. Dann können wir den Kampf auch gewinnen. Es ist kein Schicksal. Wir haben es in der Hand.
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