Verein für HIV-positive Ukrainer*innen gegründet
Geflüchtete, die queer und HIV-positiv sind, sind besonders stark von Stigmatisierung und Versorgungsproblemen betroffen. Mehrere Tausend Personen, die aus der Ukraine nach Deutschland geflohen sind, leben mit dem Virus. SIEGESSÄULE sprach mit Menschenrechtsaktivist Rostyslav Dzundza, der im März 2022 aus Kyív nach Berlin floh und hier den Verein PlusUkrDe gründete. Zum Welt-Aids-Tag am 1. Dezember hat PlusUkrDe zusammen mit anderen Vereinen eine Demonstration vor dem Brandenburger Tor organisiert
Rostyslav Dzundza, warum war es Ihnen wichtig, in Berlin eine Organisation für HIV-positive und an Aids erkrankte Menschen aus der Ukraine zu gründen?
Als ich im März am Berliner Hauptbahnhof ankam, sah ich einen Stand mit einer Regenbogenflagge. Dort lag ein Flyer von der Berliner Aids-Hilfe aus. Ich habe ein Foto davon gemacht, für den Fall, dass ich das mal brauche.
Aber wie viele weitere Menschen, die aus der Ukraine geflüchtet sind, habe ich am Anfang geglaubt, dass es nur für kurze Zeit wäre – vielleicht zwei oder drei Wochen. Ich habe keine Vorkehrungen getroffen, was meine langfristige Lebensgestaltung oder meine HIV-Therapie betrifft. Wie so viele Ukrainer*innen wollte ich nicht an die Existenz eines Krieges glauben. Ich dachte: Das ist ein Fehler, wir wachen morgen wieder auf und die Sache wurde ad acta gelegt. Weil eine Lösung gefunden wurde, weil alles eine Drohgebärde war. Also ging ich davon aus, dass ich bald zurück nach Kyív fahre und dort meine Tabletten bekomme. Erst nach und nach habe ich verstanden, dass ich längere Zeit bleiben und hier etwas organisieren muss.
Also haben Sie die Berliner Aids-Hilfe angerufen?
Ehrlich gesagt, habe ich mich zunächst davor gedrückt, mich dort zu melden. Ich wusste nicht, in welcher Sprache man mir antworten und wie man sich zu mir positionieren würde. Also habe ich andere ukrainische Menschen angerufen und sie gefragt, ob die Stelle vertrauenswürdig ist. Schließlich habe ich die Nummer angerufen und bekam meine Medikamente, sozialarbeiterische Unterstützung, wurde untergebracht und habe Kontakte zu anderen Personen bekommen. Ich habe versucht, in Berlin mein Leben aus Kyív fortzusetzen. Da ich dort gesellschaftspolitisch aktiv war, war es für mich selbstverständlich, dass ich meinen Aktivismus hier fortführe.
„Es ist ein großer Fehler, aber manche Betroffene ziehen es vor, keine Tabletten zu nehmen, als sich zu outen.“
Was sind die spezifischen Probleme ukrainischer Personen mit HIV in Deutschland?
Vielen HIV-positiven Personen, gerade queeren Jugendlichen, fehlt es an einem sicheren Umfeld. Viele von ihnen leben jetzt plötzlich sehr eng mit ihren Eltern zusammen, vor denen sie vielleicht nicht geoutet sind. Sie haben Angst, über ihre Probleme zu sprechen. In Berlin sieht die Versorgungslage besser aus, aber gerade in ländlichen Gegenden haben HIV-positive und queere Personen kaum Räume, über ihre spezifischen Sorgen zu reden und sich mit anderen Menschen auszutauschen, die sich in der gleichen Lage befinden wie sie selbst. Je kleiner die Ortschaft, desto schwieriger ist es, LSBTIQIA+ und HIV-positiv zu sein.
Viele wohnen in großen Gemeinschaftsunterkünften und verstecken ihren Status aus Angst vor den Reaktionen der Menschen, die ihnen nahestehen, aber auch von solchen, die ihnen nicht nahestehen – zum Beispiel der Unterkunftsleitung. Sie empfinden die Lage als unsicher. Es ist ein großer Fehler, aber manche Betroffene ziehen es vor, keine Tabletten zu nehmen, als sich zu outen. Das ist nachvollziehbar, da das Stigma immer noch sehr groß ist und Betroffene auf Aggression oder Ablehnung stoßen, wenn sie anderen Menschen von ihrer Situation erzählen.
„Wir gehen davon aus, dass in Deutschland derzeit rund 6.000 bis 8.000 Menschen aus der Ukraine mit HIV leben.“
Wie sieht Ihre Arbeit mit PlusUkrDe aus?
Mehr als 100 Ukrainer*innen haben sich nach dem Ausbruch des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine in Deutschland zu PlusUkrDe zusammengeschlossen und unterstützen sich seitdem gegenseitig. Die Gruppe besteht dabei nicht nur aus Menschen mit HIV, sondern auch aus Expert*innen aus HIV-Versorgungsstrukturen, die insbesondere die Ostukraine aufgrund des Krieges verlassen mussten.
Im ersten Schritt ging es also darum, dass wir Betroffene uns um uns selbst und einander kümmern. Dass wir herausfinden, wie wir die Therapie fortsetzen und uns behandeln lassen können. Schätzungsweise sind um die 50.000 LSBTIQIA+ aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet. Und wir gehen davon aus, dass in Deutschland derzeit rund 6.000 bis 8.000 Menschen aus der Ukraine mit HIV leben. Unsere Community ist besonders von den Kriegsfolgen betroffen, weil wir auf Unterstützungsstrukturen angewiesen sind. Queere Menschen aus der Ukraine versuchen, in Deutschland eine sichere Umgebung zu finden und brauchen dringend psychologische Unterstützung und Kontakt zu Menschen, denen es ähnlich geht.
PlusUkrDe arbeitet mit verschiedenen Gruppen zusammen. Wir haben ein HIV-Camp organisiert und bisher zwei Treffen gestaltet. Wir liefern Unterstützungs- und Kontaktangebote für Minderjährige, die mit HIV leben, und richten gemeinsame Treffen für ukrainische und deutsche Personen aus. PlusUkrDe hat eine Subgruppe konkret für LSBTIQIA+. Wir haben etwa gemeinsam am Berliner CSD teilgenommen oder am 17. Mai zum IDAHOBIT eine Aktion ausgerichtet. Die Registrierung hat lange gedauert, aber mittlerweile ist PlusUkrDe ein eingetragener Verein, der Menschen mit HIV, aus der LGBTIQ*-Community, Sexarbeiter*innen, Drogengebrauchenden, Frauen, Jugendlichen und Kindern mit HIV und anderen beratend zur Seite steht.
„Leider mangelt es an Unterkünften, und viele müssen gegen ihren Willen in die Provinz ziehen, wo sie verstärkt mit Einsamkeit und Vorurteilen zu kämpfen haben.“
Was können die Politik und Gesellschaft in Deutschland für HIV-positive und queere Personen aus der Ukraine tun?
Wir brauchen unbedingt dauerhafte Unterkünfte für die Menschen, die hierherkommen und bleiben möchten. Queere und HIV-positive Personen wollen oft in den großen Städten bleiben, weil sie sich hier auf mehr Akzeptanz und Unterstützungsnetzwerke verlassen können. Leider mangelt es aber an Unterkünften, und viele müssen gegen ihren Willen in die Provinz ziehen, wo sie verstärkt mit Einsamkeit und Vorurteilen zu kämpfen haben. Menschen, die direkt vom Krieg und der Flucht traumatisiert sind, brauchen psychotherapeutische Begleitung in ukrainischer Sprache. Außerdem mangelt es generell an Ärzt*innen, die Ukrainisch oder Russisch sprechen. Die bisherigen Mittel in der HIV/Aids-Bekämpfung müssen dringend aufgestockt werden, um Menschen aus der Ukraine mitzuversorgen und die HIV-Epidemie präventiv einzudämmen.
Wie geht es jetzt mit PlusUkrDe weiter?
Wir werden am 1. Dezember zum Welt-Aids-Tag und am 12. Dezember zum Tag der Menschenrechte Aktionen planen. Unsere Arbeit besteht aus öffentlichen Aktionen und Treffen, die unter uns stattfinden. Derzeit treffen wir uns immer sonntags in den Räumlichkeiten der Berliner Aids-Hilfe. Zweimal im Monat finden thematische Veranstaltungen im Café Ulrichs statt. Auf längere Sicht ist es ein Wunsch von uns, einen eigenen Treffpunkt zu organisieren. Ein Café zum Beispiel, eine Anlaufstelle.
Interview: Muri Darida, Übersetzung: Sergiu Grimalschi
Kontakt zu PlusUkrDe:
facebook.com/HIVUkranianGermany
Demonstration zum Welt-Aids-Tag 2022
Zum Welt-AIDS-Tag am 1. Dezember 2022 findet um 14:00 Uhr am Brandenburger Tor eine Demonstration statt.
Die Mottos und Forderungen lauten: „Zeit für Gleichberechtigung!", „Schluss mit der Diskriminierung!", „Gesundheitsversorgung ist ein Recht, kein Privileg!", „Beseitigen Sie die Ungleichheiten beim Zugang zu HIV-Medikamenten für Migranten und Menschen, die vor Krieg fliehen!" und „Stoppen Sie die Abschiebung von HIV-positiven Migrant*innen!"
Die Demonstration wird von der Gruppe HIV-positiver Migranten "BeKAM", der Vereinigung drogenabhängiger Menschen "BerLUN" und dem Verein "PlusUkrDe" mit Unterstützung der Berliner Aidshilfe und APH organisiert.
Im Rahmen der Demo gibt es u. a. Reden der Vertreter*innen von BeKAM, PlusUkrDe und BerLUN.
Weitere Termine zum Welt-Aids-Tag 2022
Ab 12 Uhr: Im Rahmen eines Projekts des Bezirksamts Treptow-Köpenick wurde vor dem Gebäude an der Rudower Chaussee 4-6 in Adlershof eine "Mauer aus Stereotypen" aufgebaut, die die Wände in den Köpfen von Menschen symbolisieren soll. Am Welt-Aids-Tag wird diese Mauer eingerissen.
Ab 14:30 Uhr: Unter dem Titel "Ende der AIDS-Pandemie bis 2030 - Vision oder Realität?" wirft das Tagesspiegel Fachforum Gesundheit einen Blick auf die aktuelle HIV-Politik
19 Uhr: Die AG Queer Lichtenberg lädt in das Kino CineMotion Hohenschönhausen, in dem der mehrfach ausgezeichneten Film „Dallas Buyers Club“ (2013) gezeigt wird, der auf der wahren Lebensgeschichte des Aids-Patienten Ron Woodroof basiert. Der Eintritt ist frei
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#HIV/Aids#Selbsthilfe#Ukraine