US-Wahl 2020: Der amerikanische Traum liegt in Schutt und Asche
Millionen von Menschen hatten inner- und außerhalb auf einen Machtwechsel und die Abwahl Donald Trumps gehofft. Seit Samstag, den 07.11., steht fest, dass der Demokrat Joe Biden Sieger der US-Präsidentenwahl ist, auch wenn Trump das nicht anerkennen will. Michaela Dudley hatte sich bereits im Vorfeld der Wahlen in der queeren US-Community umgehört, wie die Stimmung ist
„Oh sagt, könnt ihr sehen, im frühen Licht der Morgendämmerung?“, so fängt die US-Nationalhymne an. Sobald die erste Strophe ertönt, steht man stramm. Patriotische Pflichtsache. Man legt die rechte Hand aufs Herz und wendet sich der Flagge zu. Denn das von dem Juristen Francis Scott Key getextete Lied feiert das zerfetzte Sternenbanner, das trotz der heftigen Beschüsse britischer Kriegsschiffe 1814 bei Tagesanbruch weiterhin über Fort McHenry bei Baltimore wehte. Als „Land der Freien und Heimat der Tapferen“ bezeichnete der Sklavenbesitzer Key seine aufstrebende Nation euphorisch. Sie sollte der Stoff sein, aus dem die Träume sind. Diese Zuversicht ist fest im Gewebe der US-amerikanischen Gesellschaft verankert. Doch heute, gut zwei Jahrhunderte später, hegen Millionen verzweifelte Amerikaner*innen Hoffnung auf eine neue „Morgendämmerung“, die jetzt vielleicht wieder zu nichte gemacht wird. Der Wahlkampf hat die Fronten weiterverschärft. Zugleich waren in den Monaten vor der Wahl die Proteste gegen rassistische Polizeibrutalität ungebrochen laut. Wohin steuern die USA?
„Hoffen reicht nicht“
„Hoffen allein reicht nicht, wir müssen handeln“, betont Wendy, eine Schwarze trans Frau aus Baltimore. Auch wenn sie in der Geburtsstätte der Nationalhymne auf die Welt kam, ist für die 27-Jährige der American Dream noch nicht in Erfüllung gegangen. Baltimore, nur einen Katzensprung von der US-Hauptstadt entfernt, liegt gleichsam im dunklen Schatten des Weißen Hauses.
Wendys Vater saß wegen eher kleiner Drogenvergehen lange im Knast. Ihre Stiefmutter warf sie als genderfluides Kind mit 16 Jahren aus dem Haus. In Baltimore half ihr aber die „Gayborhood“: Die Metropole mit der fünfthöchsten Mordrate der USA gilt nämlich auch als die fünftfreundlichste Stadt für queere Personen aller Couleur. Wendy fand Hilfe bei Support-Organisationen wie Tran*Quility. Seit letztem Jahr nimmt sie am Abendunterricht des Community Colleges teil, sie will Sozialarbeiterin werden. Online engagiert sie sich außerdem als ehrenamtliche Wahlhelferin – sie hat alle aus ihrem Umfeld ermutigt, ihre Stimme den Demokraten zu geben.
Wie wählen LGBTI*?
„Es ist eine Schicksalswahl“, betont Christy Mallory gegenüber SIEGESSÄULE. Sie ist Rechtsvorstand des Williams Institute, ein Forschungszentrum, das an der University of California in Los Angeles angesiedelt ist. Laut einer Umfrage von 2019 zu den Wahlpräferenzen queerer Menschen, die Mallory am Williams Institute veröffentlicht hat, unterstützte die Hälfte der LGBTI*-Wähler*innen die Demokraten. 15 Prozent gaben ihren Support den Republikanern, der Rest bevorzugte andere Parteien und Kandidat*innen oder war unentschieden. Laut der so genannten Exit Poll von 2020, einer traditionellen US-Wahltagsbefragung, stimmten sogar 28 Prozent der LGBTI* für Donald Trump – weit mehr als noch vier Jahre zuvor.
Für die Wahl spielen Queers also eine Rolle: Fast neun Millionen LGBTI* sind wahlberechtigt. „Man kann die Bedeutung der Präsidentschaftswahlen 2020 für die LGBTQ-Community nicht genug hervorheben“, sagt Mallory. Unter Trump wurde etwa der Schutz vor Nichtdiskriminierung im Gesundheitswesen für trans Personen aufgehoben. Dies sei nur eines von vielen Beispielen, wie die Trump-Regierung LGBTI*-Rechte bereits untergraben hat. Zugleich gebe es laut Mallory auch Grund zu vorsichtigem Optimismus. So verkündete der oberste US-Gerichtshof im Juni, das Bürgerrechtsgesetz von 1964 schütze explizit auch vor Diskriminierung am Arbeitsplatz und vor Kündigung wegen der geschlechtlichen Identität oder der sexuellen Orientierung. Für diese wegweisende Entscheidung stimmten sogar zwei der von Trump nominierten Richter. Mallory ist außerdem davon überzeugt, dass sich Trumps Herausforderer, der Demokrat Joe Biden, „voll und ganz einer queerfreundlichen Agenda verschreibt“.
Radikaler Wandel?
Weder mit Trump noch mit Biden glücklich sein wird dagegen M. Lamar. Der Countertenor, Komponist und Multimedia-Performer wurde vor 48 Jahren in Alabama geboren – wie übrigens auch seine Zwillingsschwester, die trans Frau und Schauspielerin Laverne Cox, die vielen durch die Netflix-Serie „Orange Is the New Black“ bekannt sein dürfte. „Queer und Schwarz in den Südstaaten aufzuwachsen ist wohl eine Herausforderung“, meint Lamar nachdenklich. Von einem möglichen Machtwechsel verspricht er sich nicht so viel wie Mallory. „Wir haben wörtlich die Qual der Wahl. Einerseits Trump, der People of Color, Queers und Frauen ständig dämonisiert und demütigt. Andererseits Biden, der auch als Arbeitersohn neoliberale Wirtschaftsinteressen verfolgt.“ Lamar hat nicht vergessen, dass der Demokrat Biden, früher als US-Senator, ein Befürworter der Todesstrafe war und Bill Clintons Strafrechtsverschärfung unterstützte, die in den 90er-Jahren einen Boom privat geführter Gefängnisse und eine Masseninhaftierung Schwarzer Bürger nach sich zog. Dass Biden später als Vizepräsident unter Barack Obama, dem ersten afroamerikanischen US-Präsidenten, acht Jahre lang gedient hat, imponiert Lamar nicht. Obama sei als „Wohlfühl-Präsident“ in die Geschichte eingegangen, habe aber in seinen acht Jahren Amtszeit die Chance auf „nachhaltige Vorstöße in Richtung Gerechtigkeit“ verpasst.
Unabhängig vom Ausgang der US-Wahl 2020 ist eine Sache klar: Weite Teile des amerikanischen Traumes liegen in Schutt und Asche – und es bedarf eines radikalen gesellschaftlichen Wandels, um ihn wiederaufleben zu lassen.
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