Urteil gegen HIV-Arzt: Richtiges Zeichen für die queere Community
Am 22. Verhandlungstag endete der Prozess gegen einen Berliner HIV-Arzt, der wegen sexuellen Missbrauchs vor Gericht stand. In einem von fünf verhandelten Fällen war der Angeklagte schuldig gesprochen worden. Sascha Suden fasst den letzten Verhandlungstag und die Erläuterungen zum Urteil zusammen
„Ich bin sehr froh.“ Das waren die ersten Worte des Nebenklägers Martin gegenüber der Presse nach der Urteilsverkündung am Montag, dem 1. November. In seinem Fall wurde der Berliner HIV-Arzt, dem in fünf Fällen vorgeworfen worden war, seine Patient*innen während der Behandlung sexuell missbraucht zu haben, schuldig gesprochen. Martin fügte hinzu: „Ich bedauere es aber auch, dass er nur in einem Fall verurteilt wurde". Seine Anwältin Undine Weyers ergänzte: „Es wäre verheerend gewesen, wenn es einen kompletten Freispruch gegeben hätte.“ In drei der fünf Fälle war das erweiterte Schöffengericht unter dem Vorsitzenden Richter Rüdiger Kleingünther nicht von der Schuld überzeugt. Ein Verfahren wurde abgetrennt und wird separat weiterverhandelt, sobald das mutmaßliche Opfer aussagefähig ist.
„Wir sind am unteren Rand des Strafmaßes geblieben“
Begonnen hatte der 22. Verhandlungstag mit den Plädoyers der beiden Nebenklagevertreterinnen Barbara Petersen und Undine Weyers. Die Öffentlichkeit war zu diesem Zeitpunkt ausgeschlossen und wurde erst zur Urteilsverkündung wieder zugelassen. Anschließend plädierte der letzte der drei Verteidiger des Angeklagten, Johannes Eisenberg. Drei Stunden lang versuchte er das Gericht zu überzeugen, dass sein Mandant in allen vier Fällen unschuldig sei. Der hatte, wie fast im gesamten Prozess, auch bei seinem möglichen letzten Wort geschwiegen.
Zwei Stunden später sprach der Richter das Urteil. Er sagte: „Wir sind der Überzeugung, dass die Aussage von Martin stimmt.“ Der HIV-Arzt wurde in diesem Fall zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen à 300 Euro verurteilt. Damit ist das Gericht unter der Forderung der Staatsanwaltschaft geblieben, die 11 Monate Haft in drei Fällen gefordert hatte. „Wir sind am unteren Rand des Strafmaßes geblieben“, erläuterte Kleingünther gegenüber den Anwesenden im Gerichtssaal. Ein Grund: „Es handelte sich nur um eine kurze Manipulation.“ Gemeint war die Stimulierung des Penis ohne medizinische Indikation, die zur Erektion des Opfers führte. Er wies darauf hin, dass die rektale Untersuchung und das Berühren der Prostata nicht als Teil des sexuellen Missbrauchs gewertet wurde, da weder die Dauer des Geschehens eingegrenzt werden konnte, noch das Störgefühl des Opfers, dass etwas nicht stimme, dafür ausreiche. Laut dem medizinischen Sachverständigen gehöre dies standardmäßig zu einer rektalen Untersuchung dazu. Vom psychologischen Sachverständigen Prof. Köhnken, den der Angeklagte beauftragt hatte, hatte sich das Gericht mehr versprochen. Prof. Köhnken hatte unter anderem ausgesagt, dass Martin in der Lage sei „sich die Geschichte auszudenken“. Diese schlichte Erkenntnis reiche laut der Begründung des Richters nicht aus, um an der Aussage des Zeugen zu zweifeln.
45.000 Euro Geldstrafe
Die Verurteilung nach § 174c, also eines sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses, sieht ein Strafmaß von 3 Monaten bis 5 Jahren vor. Das Gericht sah 5 Monate als richtiges Strafmaß an, da jedoch „der Gesetzgeber solche kleinen Haftstrafen nicht will, lässt er die Möglichkeit einer Geldstrafe zu", so der Richter. 45.000 Euro schienen dem Gericht angemessen. 30 Tagessätze, also 9000 Euro, wurden dem Mediziner erlassen, da sich „das Verfahren über so einen langen Zeitraum" hinzog und er „besonders belastet durch die Berichterstattung der Presse“ war. Das Geld erhält die Staatskasse. Zusätzlich muss er die Auslagen des Opfers Martin übernehmen. Ein Berufsverbot hat Kleingünther nicht erteilt. Darum wird sich jetzt das Lageso kümmern müssen, dass sich bislang weigerte – trotz Forderung der Ärztekammer – die Approbation ruhend zu stellen. Ob es sich wieder mit der Begründung herausredet auf das Ende des Berufungsverfahrens warten zu müssen oder ob es endlich mutmassliche Opfer schützt, bleibt die spannende Frage.
Einvernehmlichen Sex während ärtztlicher Behandlung nicht strafbar
Im Fall eines weiteren Zeugen war der Angeklagte freigesprochen worden, weil es laut Aussage des Zeugen zwar zwischen ihm und dem Arzt zu sexuellen Handlungen gekommen sei – diese allerdings mit seinem Einverständnis erfolgt seien. Richter Kleingünther hat in seinem Urteil seine Sichtweise des § 174c erläutert und ist der Auffassung, dass einvernehmlicher Sex während einer Behandlung von dem Paragrafen nicht gedeckt sei und somit nicht strafbar. Sowohl die Staatsanwaltschaft wie auch die Nebenklagevertreterin Undine Weyers waren anderer Meinung: „174c sagt, selbst bei Einwilligung darf man nicht anpacken“. Für Kleingünther stellt § 174c nicht „jegliche sexuelle Betätigung zwischen Arzt und Patient unter Strafe“. Vor allem, wenn es Sex „ohne Zwang und ohne Täuschung“ war.
Im Falle von Mohamed wurde der Angeklagte freigesprochen, da das Gericht den Zeugen „nicht überzeugend fand“. Er fügte hinzu: „Ich möchte nicht lesen, ein Freispruch 2. Klasse“. Anscheinend war der Richter der Meinung, dass man diesen Freispruch so bewerten könne. Da der Zeuge die Öffentlichkeit ausgeschlossen hatte, beendete er danach seine Ausführungen im Fall Mohamed.
„Das Verfahren hat viel losgelöst in der Szene und Mut gemacht darüber zu reden.“
Der letzte Freispruch erging im Fall des Zeugen Lars. Kleingünther attestierte ihm intellektuelle Fähigkeiten und das Gericht wisse nicht, „ob seine Aussagen wahr oder falsch sind." Es habe zu viele Hinweise gegeben, dass er „ein Interesse an einer Strafverfolgung des Angeklagten“ gehabt hätte, unter anderem weil er gegen strukturelle Machtverhältnisse zwischen Arzt und Patient sei. Kleingünther endete mit den Worten: „Daraus können wir kein Urteil schließen“.
Diese Begründung machte Lars Anwältin Barbara Petersen sprachlos. „Mir ist die Stimme weggeblieben bei der Begründung“, so die Anwältin nach der Urteilsverkündung gegenüber den Pressevertreter*innen. Sie sei aber froh, dass es immerhin in einem Fall eine Verurteilung gegeben hat. Ob sie für ihren Mandanten in Berufung geht, konnte sie noch nicht sagen. „Es war psychisch anstrengend für meine Mandanten und man will auch mal abschließen.“ Allerdings sei das Verfahren und das Urteil gut für die queere Community. „Das Verfahren hat viel losgelöst in der Szene und Mut gemacht darüber zu reden.“ Dieser Meinung ist auch Undine Weyers, die Anwältin von Martin. „Ich bin sehr froh, dass es zu einer Verurteilung gekommen ist. Ich hätte den Glauben an den Rechtsstaat verloren, wenn es nicht dazu gekommen wäre.“
Eine Woche haben beide Seiten nun Zeit in Berufung zu gehen. Sollte es zur Berufung kommen, darf der HIV-Arzt bis zur Entscheidung im Berufungsverfahren als in erster Instanz verurteilter Sexualstraftäter bezeichnet werden.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
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