Weltgesundheitstag am 7. April

Unsichtbare Epidemie: Mentale Gesundheit in der LGBTIQ*-Community

5. Apr. 2024 Ahmed Awadalla
Bild: Alex Green Quelle

Nach vier Jahren Pandemie hat sich gezeigt, welche Auswirkungen Covid auf die mentale Gesundheit der LGBTIQ*-Community hatte: Isolation und fehlende Safe Spaces führten zu psychischen Krisen und erhöhtem Substanzkonsum. Anlässlich des Weltgesundheitstags am 7. April beleuchtet SIEGESSÄULE-Autor und Kolumnist Ahmed Awadalla, wie die Community das Thema aufarbeitet und welche Ansätze es im Umgang mit Substanzkonsum gibt

Diskriminierung und Minderheitenstress beeinflussen die Gesundheit der LGBTIQ*-Community. Das ist schon lange bekannt, weshalb beispielsweise im März die LGBTIQ* Health Awareness Week und auch der Bisexual Health Month stattfinden, die auf queer-spezifische Gesundheitsprobleme aufmerksam machen sollen.

Vor allem unter der Pandemie haben queere Menschen gelitten. Wegen der Covid-Eindämmungsmaßnahmen blieben queere Orte wie Clubs und Bars geschlossen und viele LGBTIQ* konnten nun nur unter erschwerten Bedingungen Zeit mit ihren Wahlfamilien verbringen.

Während Substanzkonsum vor der Pandemie im Club passierte, verlagerte sich der Rausch nun in die eigenen vier Wähne – ohne Schutz oder ein aufmerksames Umfeld. Zusammen mit der sozialen Isolation entwickelte sich neben der Pandemie auch eine unsichtbare Epidemie der psychischen und existenziellen Krisen, Suizide und drogenbedingten Todesfälle. Gleichzeitig war es kaum möglich, gemeinsam um die verlorenen Menschen zu trauern, da die Räume fehlten.

Filmprojekt über queere Trauer

Als Reaktion auf diese wachsende Belastung richtete die Berliner Filmemacherin Sarnt Utamachote auf Social Media eine Frage an die queere Community: „Ist es an der Zeit, die Geschichten unserer verstorbenen Freund*innen durch einen Film zu verewigen?“ Die Idee kam nicht nur gut an, sondern kreierte eine neue Plattform für die Community, sich über mentale Gesundheit, Substanzkonsum und Trauer auszutauschen.

Der Film, der daraus entstanden ist heißt „Ich will nicht nur eine Erinnerung sein“ und feierte auf der diesjährigen Berlinale Premiere. Die Kurzdoku ehrt nicht nur die in der queeren Szene verlorenen Leben, sondern gibt auch Einblicke in queere Trauerrituale. Im Film kommen LGBTIQ* zu Wort, die über ihre Beziehung zu Substanzen sprechen, über soziale Isolation und fehlende Achtsamkeit in Berliner Clubs. Darüber hinaus diskutieren Initiativen wie Queer Mama über ihr Engagement für queere Gesundheit im Nachtleben.

Im Mittelpunkt des Films steht queeres Leben – was verloren ist, was bleibt und was queere Trauer bedeutet. Als weiteren Aspekt thematisiert der Film das Konzept „Harm Reduction“. (Reduktion der schädlichen Folgen für Personen, die von Substanzen abhängig sind sowie für ihr soziales Umfeld, Anm. d. Red.)

Anstatt wie üblich bei der Suchtprävention Menschen von einem abstinenten Lebensstil zu überzeugen, ähnelt dieser Ansatz dem Prinzip von Safer Sex: Bewusste und informierte Entscheidungen statt Verzicht.

„60 Prozent der Personen, die abstinent ausgerichtete Rehabilitationsprogramme durchlaufen, erleiden einen Rückfall.“

Das Konzept ist auch in der Berliner Partyszene bekannt: Wanda Gaimes vom queerfeministischen und sexpositiven Partykollektiv Lecken beschäftigt sich mit Harm Reduction. „60 Prozent der Personen, die abstinent ausgerichtete Rehabilitationsprogramme durchlaufen, erleiden einen Rückfall“, sagt die angehende Psychotherapeutin. Sie ist vom Psychoanalytiker Jacques Lacan inspiriert, der sich von der normativen Suchtprävention distanzierte und Sucht als vielschichtig und komplex betrachtete.

Gaimes setzt sich für einen Paradigmenwechsel in der konventionellen Psychotherapie ein. Sie fordert ein Umdenken, das Drogenkonsument*innen selbstständiges Handeln zuspricht und auf ihre Biografien eingeht. Ihre Masterarbeit veröffentlicht sie unkonventionell als Zine mit dem passenden Titel „Junkie Drives“, um ihre Erkentnisse sowohl Konsument*innen als auch Therapeut*innen zugänglich zu machen.

Entkriminalisierung von Substanzkonsum

Im Sinne der Harm Reduction ist auch die Forderung nach Entkriminalisierung. Strafmaßnahmen verschärfen die Marginalisierung von Drogenkonsument*innen. Die Ressourcen könnten besser eingesetzt werden, zum Beispiel für Maßnahmen, die sozioökonomische Ungleichheiten abbauen, welche Suchterkrankungen und den damit verbundenen sozialen Abstieg erst begünstigen. Trotz jüngster Fortschritte bei der Cannabisgesetzgebung sind wir allerdings von der Entkriminalisierung anderer Substanzen noch weit entfernt.

Nach vier Jahren Pandemie ist es an der Zeit, sich endlich mit der gesundheitlichen Krise der queeren Community, der unsichtbaren Epidemie und mit dem kollektiven Trauma der Pandemie zu beschäftigen. Die Dringlichkeit wird nicht zuletzt durch den tragischen Verlust von queeren Talenten wie Aérea Negrot und RTalin deutlich, die sich auch am Film „Ich will nicht nur eine Erinnerung sein“ beteiligten. Aérea Negrot war eine queere Berliner Musikerin, DJ und Performerin, die im letzten Oktober überraschend im Alter von 43 Jahren verstarb. Der queere Berliner Musiker, Schauspieler, Produzent und Performer RTalin starb wenige Tage vor Weihnachten im Alter von nur 34 Jahren.

Utamachote und Gaimes zeigen, wie eine Antwort auf diese Krise aussehen könnte: Entstigmatisierung und Entkriminalisierung von Substanzkonsum sowie Awareness und Safer Spaces für vulnerable Communitys.

„Ich will nicht nur eine Erinnerung sein“,
Originaltitel: „I Don’t Want to Be Just a Memory“,
Regie: Sarnt Utamachote

Screening am 5. April im Village Berlin im Rahmen des Kurzfilmprogramms von Instinct #15, ab 20:00 Uhr

Bild: Alexa Vachon
Ahmed Awadalla ist ein Berliner Autor, Kolumnist, Pädagoge und Künstler

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