Ungarns queerfeindliches Gesetz: „Wir haben Angst“
Trotz internationaler Proteste ist in Ungarn ein Gesetz in Kraft getreten, das die Darstellung von LGBTIQ* zensiert. Erst Freitag letzter Woche erschien eine Verordnung von Ministerpräsident Viktor Orbán, mit der er das queerfeindliche Gesetz durchsetzen will. So dürfen zum Beispiel Kinderbücher, die nicht der heterosexuellen Norm entsprechen, nicht mehr in den Auslagen von Bücherläden gezeigt oder im Umkreis von Schulen, Jugendeinrichtungen oder Kirchen verkauft werden. Doch was bedeutet die sich zuspitzende Lage für die Menschen vor Ort? Muri Darida hat mit ungarischen Queers gesprochen
Viele ungarische Queers erfuhren über die Sozialen Medien von dem neuen LGBTIQ*-feindlichen Gesetz. „Ich habe morgens auf mein Handy geschaut und hatte bereits super viele Facebook-Nachrichten von Bekannten”, sagt Elek (Name geändert) im Gespräch mit SIEGESSÄULE. Er ist 36 Jahre alt und kämpft als Aktivist und Community-Organisator für queere und Rom*nija-Rechte. „Es war kein Schock wie ein Faustschlag, sondern eher total surreal”, erzählt er.
„Wir mussten damit rechnen – die staatlichen Medien hetzen seit Jahren gegen uns”
Am 15. Juni 2021 hat die ungarische Regierung das Gesetz verabschiedet. Es verbietet, Minderjährige über Homosexualität, Queerness oder Transgeschlechtlichkeit zu informieren. Kinder und Jugendliche dürfen also keinen Zugang mehr zu Broschüren, Filmen, Aufklärungskampagnen und Werbung mit LGBTIQ*-Inhalten haben. Das betrifft ein ungarisches Kinderbuch wie „Märchenland für alle”, dessen Protagonist*innen keiner weißen, heteronormativen und bürgerlichen Norm entsprechen. Aber auch Serien wie „Friends“, Coca-Cola-Reklame und Filme mit homosexuellen Nebenfiguren, wie etwa „Bridget Jones“, dürfen nur noch spätnachts mit einer Freigabe ab 18 Jahren ausgestrahlt werden.
„Wir mussten damit rechnen – die staatlichen Medien hetzen seit Jahren gegen uns”, sagt Elek. Er spielt auf eine Reihe queer- und transfeindlicher Gesetze in den vergangenen anderthalb Jahren an. Im März 2020 wurde es trans* Personen verboten, ihr Geschlecht legal anerkennen zu lassen. Im November folgte ein weiteres Gesetz, das queeren und alleinstehenden Personen untersagt, Kinder zu adoptieren. Für das neueste Gesetz gegen LGBTIQ* haben 157 von 199 Abgeordneten im ungarischen Parlament gestimmt. Mit Ausnahme der rechten Jobbik-Partei hat die Opposition allerdings die Abstimmung boykottiert.
Proteste für queere Rechte
Tausende demonstrierten im Anschluss vor dem Parlament in Budapest, es war einer der größten Proteste für queere Rechte jemals. Auch international hat die Gesetzesänderung für Empörung gesorgt. EU-Politiker*innen forderten in einer Parlamentsdebatte Anfang Juli die sofortige Rücknahme des Gesetzes. Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, sagte, das Gesetz verwende den Kinderschutz „als Vorwand, um Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung schwer zu diskriminieren“. Es widerspreche „zutiefst den Grundwerten der Europäischen Union – dem Schutz der Minderheiten, der Menschenwürde, der Gleichheit und der Wahrung der Menschenrechte“.
Selbst Horst Seehofer, der ein langjähriger Unterstützer des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán ist, forderte Sanktionen. Orbán selbst bekräftigte in einem Statement, das Gesetz sei richtig und seine Fidesz-Partei werde „LGBTIQ*-Organisationen und -Aktivist*innen nicht in die Nähe unserer Kinder lassen”. Fidesz begründete den Beschluss mit dem Kinderschutz. Das Gesetz ist Teil eines ganzen Pakets, das auf ungarisch pedofiltörvény, also Pädophilengesetz, genannt wird. Neben dem Verbot, Homosexualität zu „propagieren”, sieht es auch härtere Bestrafungen von Täter*innen vor, die sexualisierte Gewalt an Kindern ausüben. Fidesz und weitere rechtsnationale Politiker*innen hatten bereits in den vergangenen Jahren immer wieder behauptet oder suggeriert, Queerness und sexualisierte Gewalt an Kindern gehörten zusammen.
„Jemanden wie mich habe ich nie gesehen, nicht im Fernsehen und in meinem Umfeld sowieso nicht”
Elek vermutet, dass sowohl Fidesz als auch die Mehrheit der Ungar*innen im Grunde genau wissen, dass Homosexualität, Queerness und Transgeschlechtlichkeit nichts mit sexualisierter Gewalt zu tun haben. „Die wenigsten Menschen sind so dumm und verstehen den Unterschied nicht”, sagt er. „Ich glaube, sie brauchen einfach nur eine ideologische Grundlage, um ihre Queerfeindlichkeit zu rechtfertigen.” Diese Rhetorik sei gefährlich. „Die Regierung und die Medien dämonisieren uns, sie wollen zeigen, dass man Kinder vor uns beschützen muss, dass wir schädlich sind und uns verstecken sollten.” Er selbst hatte als Kind und Jugendlicher keine Vorbilder. „Ich wurde Mitte der 80er-Jahre in eine arme Arbeiter*innenfamilie auf dem Land geboren”, sagt Elek. „Als ich Teenager war, hatten wir kein Internet und keinen Computer.” Elek ist Rom und schwul. „Jemanden wie mich habe ich nie gesehen, nicht im Fernsehen und in meinem Umfeld sowieso nicht.”
Deshalb arbeitet er heute für eine Organisation, die Community schaffen soll für Queers und Rom*nija und alle, die beides sind. „Ich selbst dachte damals, ich bin der einzige schwule Rom auf der ganzen Welt, ich fühlte mich damit so schrecklich einsam”, sagt Elek. Genau deshalb sei mediale Repräsentation so wichtig für queere und trans Jugendliche. Er selbst sei oft als „Schwuchtel“ und Rom*nija-feindlich beschimpft worden. „Bei einer Kontrolle haben mich die Polizisten ausgelacht und Tunte genannt”, sagt Elek. Es sei anstrengend, immer wieder verbale Misshandlung zu erleben und um die eigene körperliche Unversehrtheit zu fürchten. „Ich erlebe in meinem Freund*innenkreis, dass fast alle unter der psychischen Belastung leiden”, sagt er. In seinem ganzen Leben habe er selbst in der Hauptstadt kein einziges queeres Paar gesehen, das sich in der Öffentlichkeit an der Hand hielt. „Mit den neuen Gesetzen gegen uns wird es sicherlich schlimmer. Wir haben Angst.”
Homo- und Transfeindlichkeit wird normal
Auch Robin (Name geändert), Tätowierer*in aus Budapest, fühlt sich noch unsicherer auf der Straße. „Das Problem an dem Gesetz ist, dass es Homo- und Transfeindlichkeit normalisiert”, sagt Robin, 22 Jahre alt, queer und nicht binär. „Als ich von dem Gesetz erfahren habe, dachte ich erst: Das kann einfach nicht wahr sein. In dem Moment saß ein*e Kund*in bei mir. Ich habe ihr die Nachricht gezeigt, und wir saßen da und haben geweint, mir sind die Tränen einfach übers Gesicht gelaufen.” Später habe Robin die Petition unterschrieben, die Allianz Arena für das EM-Spiel in Regenbogenfarben anzustrahlen, als die deutsche gegen die ungarische Mannschaft spielte. Geteilt habe er die Petition aber nicht. Während einige LGBTIQ*-Organisationen und -Personen aus Ungarn die Initiative des Stadtrats von München unterstützten, waren andere wie Robin unentschlossen: „Ich mag keinen Regenbogenkapitalismus und keine Symbolpolitik”, sagt er. „Gleichzeitig glaube ich, dass es gerade für junge Queers so viel bedeutet hätte zu sehen, dass sie nicht allein sind.”
Das Gesetz ist mittlerweile in Kraft. Mitte Juli kündigte der Redakteur des Kinderbuchs „Märchenland für alle”, Boldizsár Nagy, an, Ungarn zu verlassen. Nagy war wiederholt von Rechten bedroht worden. Eine Buchhandlung wurde zu einer Geldstrafe verurteilt, weil sie ein weiteres queeres Kinderbuch nicht mit dem Warnhinweis versehen hatte, dass es „keine normalen Familien darstellt“. Am 15. Juli hat die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn und auch Polen eingeleitet. Die beiden Länder haben zwei Monate Zeit, um zu reagieren. Ansonsten könnte die Kommission das Verfahren bis vor den Europäischen Gerichtshof bringen – dessen Entscheidungen beide Staaten in der Vergangenheit wiederholt missachtet haben. Orbán kündigte zudem nur wenige Tage nach der Einleitung des Vertragsverletzungsverfahren ein Referendum über das Gesetz an. In einem Video rief er die Bevölkerung dazu auf, das queerfeindliche Gesetz zu unterstützen.
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