Ukrainische Community: Queer im Krieg
In einem Monat, am 24. Februar jährt sich der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. In der LGBTIQ*-Community sehen die meisten keine Alternative zum Widerstand und stehen für ihr Land ein – auch wenn diskriminierende Gesetzte sie noch immer einschränken
Bereits im Wahlkampf versprach Donald Trump den Ukraine-Krieg „in einem Tag“ zu lösen. Noch vor der Amtseinführung des 47. Präsidenten der USA hat Wladimir Putin seine Gesprächsbereitschaft gegenüber Trump über den Krieg in der Ukraine erklärt. Dabei solle es nicht nur um eine Waffenruhe, sondern um dauerhaften Frieden gehen. Wie das aussehen könnte und zu welchen Bedingungen, bleibt allerdings offen. Der Angriffskrieg auf die Ukraine jährt sich am 24. Februar zum dritten Mal und hat bereits tiefe Spuren hinterlassen.
Es regiert der Pragmatismus
So auch in Charkiw, eine Stadt voller Narben. Egal wo man sich in der zweitgrößten ukrainischen Stadt aufhält, sieht man sie: Zerstörte Häuser, ganze Gebäudekomplexe ohne Fenster, Krater auf den Straßen. Nur 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, ist die Millionenmetropole immer wieder Ziel von Angriffen. Den Willen nach Leben lassen sich die Menschen jedoch nicht nehmen. Bis zur Sperrstunde um 23:00 tummeln sie sich in hippen Bars und lassen sich von aufheulendem Luftalarm nicht aus der Ruhe bringen. „Die Geschosse sind dann sowieso schon eingeschlagen“, heißt es. So nah an der Front regiert der Pragmatismus.
Immer wieder kommt es zu großangelegten Personenkontrollen. Seit drei Jahren fordert der Angriffskrieg viele Opfer, was wiederum bei den Streitkräften zu Personalmangel führt. Vor Bars, in U-Bahn-Stationen oder im Shopping-Center nehmen Polizist*innen Stellung, um zu prüfen, ob sich Männer im wehrfähigen Alter ordnungsgemäß bei den Rekrutierungsbüros gemeldet haben. Wenn nicht, können sie auf der Stelle mitgenommen werden.
Kein freies Leben unter Besatzung
Viele Männer verlassen das Haus daher nur noch im Ausnahmefall und informieren sich in Messenger-Dienste über anstehende Kontrollen. „Das hängt allerdings sehr von der jeweiligen Person ab“, sagt Andrij Krawtschuk gegenüber SIEGESSÄULE. „Die meisten Leute in meinem Umfeld warten, so wie ich, auf die Einberufung.“ Krawtschuk ist Mitbegründer der LGBTIQ*-Beratungsstelle „Nash Svit Center“ und würde kämpfen, wenn er müsste. Denn „unter russischer Besatzung wird es für queere Menschen kein freies Leben mehr geben.“ In der Beratungsstelle ist er zuständig für die Beziehung zu Behörden und den internationalen Organisationen. Trotz der schweren Luftangriffe, die es in der Nacht gab, wirkt er während des Interviews einigermaßen ausgeruht.
„Nash Svit“ („unsere Welt“) widmet sich seit 25 Jahren queeren Themen und hat maßgeblich zu mehr Awareness und Toleranz beigetragen. Einerseits betreiben sie klassische Lobby-Arbeit in der Politik, verfassen Berichte zu queerem Leben in der Ukraine und fungieren landesweit als Anlaufstelle. Gegründet wurde die Organisation unter dem russischen Namen „Nash Mir“ in Luhansk, das seit 2014 von der Russischen Föderation besetzt ist. Nach dem Umzug nach Kyjiw entschieden sie sich bewusst für die ukrainische Schreibweise. Die Biografie von Nash Svit steht damit exemplarisch für die von hunderttausenden Ukrainer*innen. Wer frei leben wollte, musste die völkerrechtswidrig annektierten Gebiete im Osten des Landes verlassen.
„Die russische Invasion spielt für LGBTIQ*-Personen eine besondere Rolle.“
Der Beginn der russischen Großoffensive im Februar 2022 bedeutete für viele eine erneute Fluchterfahrung weiter nach Westen. Die Fotojournalistin Sitara Ambrosio war zu dieser Zeit vor Ort und porträtierte Menschen und deren Geschichte. In einem Freiwilligen-Zentrum lernt die damals 20-Jährige Yehor kennen, der mit seinem Partner aus Kyjiw geflohen war. „Er erzählte mir, wie ihn die Erfahrung prägte mit so vielen Menschen in einem Raum zu schlafen und wie negativ sich das auf die Beziehung auswirkte." Ambrosio sagt, dass sie ab diesem Zeitpunkt begriff, „dass die russische Invasion für LGBTIQ*-Personen eine besondere Rolle spielen“ würde. Seither widmet sie sich fast ausschließlich dieser Thematik und recherchiert zu Kriegsverbrechen an queeren Menschen.
Die Ukraine als verhältnismäßig progressives Land
Ihr Eindruck von queerem Leben in der Ukraine: „Für Osteuropa ist es ein verhältnismäßig progressives Land.“ Die Euromaidan-Proteste 2014 stellten Ambrosio zufolge eine Zäsur dar. Damals weigerte sich der pro-russische Präsident Viktor Janukowitsch ein Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen. Der Druck aus Moskau war zu stark. Die Polizei unterdrückte friedlichen Protest. Bald kam es zu immer gewalttätigeren Zusammenstößen und dutzenden Toten. Der „Maidan“ war nun eine landesweite Revolution. Janukowitsch und seine Regierung wurden aus dem Amt gejagt. Ambrosio zufolge sorgte dies für eine gesellschaftliche Orientierung nach Westen. Vom europäischen Wertekompass, würden queere Menschen auch heute profizieren. Die queerfeindliche Politik in Russland zeige, wie es sonst auch in der Ukraine aussehen könnte.
„Wir sind die Besten unter den Schlimmsten, oder die Schlimmsten unter den Besten.“
Trotzdem sei die Ukraine in Teilen gefährlich. So gebe es immer wieder Angriffe auf queere Personen oder Veranstaltungen. Ambrosio berichtet aus erster Person. Die Präsentation ihres Fotobuches über queeres Leben im Kriegsland konnte nur unter starken Schutzmaßnahmen in Kyjiw stattfinden. Rechtsextreme riefen im Vorhinein über Telegrammgruppen dazu auf, die Veranstaltung zu stören. Dennoch unterstreicht Ambrosio, dass es „im Verhältnis zu Ländern wie Belarus oder Russland einen großen Unterschied“ gebe. Andrij Krawtschuk zieht ähnliche Schlüsse. „Wir sind die Besten unter den Schlimmsten, oder die Schlimmsten unter den Besten“, sagt der 56-Jährige lachend. Je nachdem mit wem man sich eben vergleiche. Auch er hält die Ukraine für „fortschrittlicher als EU-Länder wie Bulgarien, Rumänien oder die Slowakei und auf jeden Fall progressiver als unsere Ex-Sowjet-Nachbarn“.
Außerhalb der Großstädte können queere Menschen sich meist nicht offen zeigen oder outen, da die Gesellschaft sehr konservativ ist. „Wir haben zwei große Gegner“, führt Krawtschuk weiter aus. Einerseits seien da die „sozial und politisch marginalen Ultra-Nationalisten“. Zwar stellten die Rechtsradikalen eine physische Bedrohung dar, allerdings seien die meisten von ihnen derzeit an der Front. Andererseits die orthodoxe Kirche, die massiven Druck auf politische Akteure ausübe, um einer Liberalisierung per Gesetz entgegenzuwirken.
Im ukrainischen Parlament sind Krawtschuk keine offen homosexuellen Abgeordneten bekannt, es gebe aber einige Sympathisant*innen. Die meisten Fürsprecher*innen habe die queere Community in den Parteien „Diener des Volkes“ von Präsident Wolodymyr Selenskyj und der liberalen „Holos“, heißt es in einem Bericht über den Zeitraum von Januar bis Juni 2024 von Nash Svit. In nächster Zeit erhoffen sie sich ein Gesetz, in dem Hassverbrechen und genderspezifische Gewalt anerkannt und bestraft werden soll.
Generell habe sich „seit dem Euromaidan 2014 die Situation für die Community stark verbessert“, resümiert Krawtschuk. In einem Aktionsplan von 2021 für Menschenrechten und Antidiskriminierung inkludierte die Regierung „für uns vollkommen überraschend, fast alle unsere Forderungen“. Gleichgeschlechtliche Ehen sind allerdings weiterhin untersagt. Einen gesellschaftlichen Konsens das zu ändern, gibt es nicht. Auch deshalb setzt Krawtschuk Hoffnung in eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine und schrittweise Anpassung der Gesetze an europäische Standards.
Ungewisse Zukunft für queere Rechte
Bis dahin ist es noch ein weiter Weg, besonders wenn der Krieg weiterhin nicht endet. Denn ein Kriegsland in die Europäische Union aufzunehmen, wird man in Brüssel kaum wagen. „Für eine gute Verhandlungsposition mit Russland, muss die Ukraine aber Stärke zeigen können“, sagt Sitara Ambrosio. Der in Deutschland oft gehörte Ruf nach Diplomatie, berge „die Gefahr eines aufgezwungenen Friedens, den Russland nach ein paar Jahren wieder aufkünden“ könne. Damit spricht die Fotojournalistin an, was ihr bei den zahlreichen Reisen immer wieder vermittelt wurde: Kriegsmüde sind alle, doch sehen sie keine Alternative.
Bei den Prides in Kyjiw und Charkiw forderten die Demonstrant*innen nicht nur Gleichbehandlung, sondern auch mehr Waffen für die Armee.
Bei den im Sommer abgehaltenen Prides in Kyjiw und Charkiw forderten die Demonstrant*innen nicht nur Gleichbehandlung, sondern auch mehr Waffen für die Armee – obwohl über ein Dutzend Mitglieder aus der Community bereits gefallen sind.
Unter den Soldat*innen, die sich der LGBTIQ*-Community zugehörig fühlen, sind die wenigsten geoutet. Vor allem für trans* Person kann das gefährlich werden. „Ich weiß von einer trans Frau, die als cis Frau in der Armee dient, weil sie den Ärzten bei der Musterung ihr angeborenes Geschlecht verheimlichen konnte“, berichtet Andrij Krawtschuk. Im Normalfall dürfen trans* Personen nicht zum Militär, da ihre Identität als „Krankheit“ gewertet werde. Für Personen in der Transition ein gewaltiges Problem. „Derzeit gibt es keinen Arzt, der eine Transition von Mann zu Frau unterschreiben würde“, so Krawtschuk. Die Angst vor Repressalien des Militärs sei zu hoch. In einem Land, in dem Bestechung Alltag ist, eine nicht unberechtigte Sorge. Den Vorwurf, Menschen dadurch vom Militärdienst zu befreien, möchte niemand auf sich nehmen.
Aller Widersprüche zum Trotz appelliert Andrij Krawtschuk an Menschen im Westen, die Unterstützung aufrechtzuerhalten. „Der Frontverlauf hat derzeit auf unseren Alltag den größten Einfluss.“ Daher brauche es eine starke Armee. Außerdem seien nahezu alle Verbesserungen der letzten Jahre auf die europäische Integration zurückzuführen. Deshalb brauche es weiter Druck von außen, um die Politik zu weiteren Schritten zu bewegen.
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