Tops und Flops des Jahres 2022
Seit einigen Jahren präsentieren wir euch in der SIEGESSÄULE die Tops und Flops des jeweiligen Monats. Zum Jahresende blicken wir aus queerer Perspektive noch einmal zurück auf einige Höhe- und Tiefpunkte des Jahres 2022
Tops des Jahres 2022
Coming-out-Aktion in der katholischen Kirche
Immer noch scheint es schwer vorstellbar, dass sich die katholische Kirche in puncto Sexualmoral, Frauenbild oder in ihrem Umgang mit LGBTIQ* eines Besseren besinnt. Dabei wäre dies ein erster Schritt, um dem immensen Vertrauensverlust in der Bevölkerung zu begegnen. Die noch verbliebenen der zumindest in Europa massiv schwindenden Mitglieder rebellierten derweil vielerorts gegen die verkrusteten Strukturen: Wie zum Beispiel im Rahmen der deutschen Initiative #OutInChurch! Nach dem Vorbild von #Actout bekannten sich 125 Mitarbeiter*innen im Dienst der katholischen Kirche in einer großen Coming-out-Aktion am 24. Januar 2022 zu ihrer queeren Identität. Sie wollen eine Kultur der Diversität und einen diskriminierungsfreien Zugang zu Ämtern und Berufsfeldern. LGBTIQ* sollen ohne Angst vor Kündigung ihre Identität leben können. Die Aktion war ein riesiger Erfolg, nicht nur wegen des großen Medienechos, auch katholische Bischöfe und Generalvikare begrüßten die Kampagne. Zudem votierte die Versammlung des Synodalen Weges Anfang Februar für eine „Neubewertung der Homosexualität“.
Immerhin wurde im November diesen Jahres das kirchliche Arbeitsrecht reformiert. So ist das Eingehen einer gleichgeschlechtlichen Ehe oder auch ein öffentliches Outing kein arbeitsrechtlicher Kündigungsgrund oder Einstellungshinderungsgrund mehr. Die Initiative #OutInChurch sprach dennoch nur von einem „Teilerfolg". Neben schwammigen Formulierungen, die Unsicherheiten für queere Mitarbeiter*innen schaffe, seien trans* und nicht-binäre Menschen nicht einmal genannt worden. Für sie gibt es weiterhin keinen Schutz im Arbeitsrecht. Hinzukommt, dass die Bischöfe nicht verpflichtet sind, die neue arbeitsrechtliche Grundordnung in ihrem Bistum auch tatsächlich umzusetzen.
Rio-Reiser-Platz eingeweiht
So langsam aber sicher wurde es auch Zeit: Seit Jahren stand eine Umbenennung des Heinrichplatzes in Rio-Reiser-Platz im Raum. Am 21. August fand endlich die große Einweihungsfeier statt. Der preußische Prinz und Infanteriegeneral Heinrich musste einem schwulen Musiker weichen, der sowohl als Solokünstler („König von Deutschland“, „Junimond“) als auch mit den Anarcho-Hymnen seiner Politrock-Band Ton Steine Scherben („Macht kaputt, was euch kaputt macht“) Musikgeschichte schrieb. Wie schön! Zumal man fast schon daran zu zweifeln begann, dass diese Umbenennung überhaupt noch stattfinden würde.
Bereits 2018 hatte es eine erste Befragung der Anwohner*innen gegeben, wie der 1996 verstorbene Rio Reiser im Berliner Stadtbild angemessen gewürdigt werden könne. Ende 2019 beschloss dann die Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg mit großer Mehrheit die Umbenennung des Heinrichplatzes. Zum 70. Geburtstag des Musikers im September 2020 sollte es dann endlich so weit sein. Doch Corona machte dem Ganzen einen Strich durch die Rechnung! Ein Jahr später platzte der nächste Versuch. Grund war der Einspruch von Anwohner*innen gegen die Umbenennung, der rechtlich geprüft werden musste. Dieser wurde dann ordnungsgemäß abgewiesen. Das Ergebnis: Ein Platz in Kreuzberg trägt den Namen einer linken schwulen Ikone, die der deutschen Anarcho- und Hausbesetzer*innenbewegung die Stichworte lieferte. Wahrlich ein schöner Grund zum Feiern!
Selbstbestimmungsgesetz vorgestellt
Allem trans*feindlichen Gegenwind zum Trotz: Am 30. Juni wurden in der Bundespressekonferenz die Eckpunkte des neuen Selbstbestimmungsgesetzes vorgestellt, das die Rechte trans*, inter* und nicht binärer Menschen stärkt. Demnach reicht es zukünftig, dass volljährige Personen eine einfache Erklärung gegenüber dem Standesamt abgeben, um ihren Geschlechtseintrag sowie ihren Vornamen zu ändern. Minderjährige ab 14 Jahren brauchen zusätzlich die Zustimmung der Sorgeberechtigten.
Mit der neuen Regelung wird endlich das alte, in großen Teilen verfassungswidrige „Transsexuellengesetz” abgeschafft. Damit ist dann auch das lange, kostenintensive und von vielen als entwürdigend wahrgenommene Verfahren Geschichte, bei dem für die Personenstandsänderung zwei psychiatrische Gutachten eingeholt werden mussten. Entschädigungen für trans* und inter* Personen, die aufgrund früherer Gesetzgebung von Körperverletzungen oder Zwangsscheidungen betroffen sind, sollen laut dem Eckpunktepapier ebenfalls geregelt werden. Auch wenn es an einzelnen Punkten Kritik gab, generell begrüßten queere Verbände das Papier als „kraftvolles Signal“ oder als positiven „Beginn zu einer offenen und aufgeklärten Gesellschaft“.
Leider gibt es dennoch einen großen Wermutstropfen: Ursprünglich sollte das Gesetz bis Ende 2022 umgesetzt werden. Doch mittlerweile ist eher von Mitte nächsten Jahres die Rede! Die Community sollte also klare Signale setzen, dass weitere Verzögerungen nicht tolerierbar sind. Das Gesetz muss so schnell wie möglich umgesetzt werden, damit die staatliche Diskriminierung gegenüber zahlreichen queeren Menschen endlich ein Ende findet.
Queere Nothilfe für die Ukraine
Die queere Community in Deutschland reagierte auf den Krieg in der Ukraine mit einer beispiellosen Welle der Solidarität. Zahlreiche Organisationen, darunter die Schwulenberatung Berlin, Quarteera e. V. oder die Deutsche Aids-Hilfe, schlossen sich innerhalb kürzester Zeit zum Bündnis Queere Nothilfe Ukraine zusammen. Eine Petition und eine Spendenaktion wurden gestartet, um die Versorgung queerer Menschen in der Ukraine und Geflüchteter zu unterstützen. Anfang Mai wurde bekanntgegeben, dass bereits nach zwei Monaten Einnahmen von über einer halben Million Euro zusammengekommen sind. Ein Rekord! Denn mehr Gelder konnten bislang bei keiner LGBTIQ*-spezifischen Spendenaktion in Deutschland in einem vergleichbaren Zeitraum gesammelt werden.
Quarteera e. V., ein in Berlin ansässiger Verein für russischsprachige LGBTIQ*, organisierte die Vermittlung von sicheren Unterkünften an queere Personen, die in Deutschland Schutz suchen. In Berlin fanden sich Freiwillige über eine Telegram-Gruppe, um am Berliner Hauptbahnhof eine LGBTIQ*-Anlaufstelle für Geflüchtete einzurichten. Was vor allem beeindruckte, war die Schnelligkeit, mit der Ressourcen mobilisiert und Unterstützung organisiert wurde. Staatliche Strukturen hinkten dem oft meilenweit hinterher.
Aktionsplan gegen Queerfeindlichkeit
In ihrem Koalitionsvertrag versprach die Ampelregierung einen ressortübergreifenden Nationalen Aktionsplan für Akzeptanz und Schutz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Am 18. November wurde der Aktionsplan „Queer leben“ vom Bundeskabinett beschlossen. Mit der Umsetzung betraut wurde der erste Queer-Beauftragte der Bundesregierung, Sven Lehmann, der von einem historischen Tag sprach. Zumindest liest sich der Aktionsplan wie eine queerpolitische Wunschliste zu Weihnachten. Fast alle Ungerechtigkeiten gegenüber LGBTIQ* sollen hier ins Visier genommen werden. Geplant sind eine Reform des Familien- und Abstammungsrechts, ein Selbstbestimmungsrecht für trans* Personen, mehr Maßnahmen zur Sensibilisierung für LGBTIQ*-Themen oder auch ein besserer Schutz von Queers gegen Gewalt. Dass hier größter Handlungsbedarf besteht, zeigte u. a. die tödliche Attacke auf den trans Mann Malte C. beim diesjährigen CSD in Münster.
Kritik aus der Community gab es dennoch, u. a. weil der Plan nicht verrät, bis wann welche Verbesserungen in Kraft treten sollen und wer anfallende Kosten übernehmen wird. Es bleibt also zu hoffen, dass es sich bei dem Beschluss des Aktionsplans nicht nur um eine Ankündigung, sondern wirklich um einen historischen Moment für LGBTIQ* in Deutschland handelt.
Roman aus nicht-binärer Perspektive gewinnt den Deutschen Buchpreis
Der Deutsche Buchpreis setzte in diesem Jahr ein wichtiges Zeichen für die Sichtbarkeit von nicht-binären Personen: Am 17. Oktober wurde in Frankfurt am Main der Roman „Blutbuch“ der*des Schweizer Autor*in Kim de l‘Horizon als bestes deutschsprachiges Buch ausgezeichnet. Nicht nur Kim de l‘Horizon identifiziert sich als nicht-binär, sondern auch die zentrale Figur des Romans. Die Jury zeigte sich gleichzeitig begeistert als auch provoziert von der literarischen Innovationskraft des Buches. „Mit einer enormen kreativen Energie sucht die nicht-binäre Erzählfigur nach einer eigenen Sprache“, heißt es in der Begründung der Jury. Die Ehrung ist mit einem Preisgeld von 25.000 Euro verbunden.
Währen des Festaktes sagte Kim de l’Horizon: „Dieser Preis ist nicht nur für mich. Ich denke, die Jury hat diesen Text auch ausgewählt, um ein Zeichen zu setzen gegen den Hass, für die Liebe, für den Kampf aller Menschen, die wegen ihres Körpers unterdrückt werden. Dieser Preis ist offensichtlich auch für die Frauen im Iran, zu denen wir alle schauen.“ Um diese Worte zu unterstreichen, rasierte sich Kim de l’Horizon aus Solidarität auf der Bühne die Haare ab. Das Abschneiden der Haare ist eines der zentralen Symbole, mit dem die Menschen im Iran ihren Protest gegen das dortige Unrechtsregime zeigen. Mit dieser eindrücklichen Aktion zeigte Kim de l’Horizon, wie man die eigene mediale Präsenz nutzen kann, um die Aufmerksamkeit auf dieses enorm wichtige Thema zu lenken.
Flops des Jahres 2022
Der Ukraine-Krieg wird in Deutschland für queerfeindliche Debatte genutzt
Der Krieg hatte kaum begonnen, da wurde er hierzulande schon genutzt, um „identitätspolitische“ und feministische Kämpfe zu diskreditieren und der Lächerlichkeit preiszugeben. Der Tenor der Debatte: Diversität und Queerness sind Zeichen unserer Schwäche gegenüber Putin. Der Chef von WeltN24, Ulf Poschardt, ätzte nur einen Tag nach Beginn des Angriffs am 24. Februar: „Die Freiheit wird nicht am Tampon-Behälter in der Männertoilette verteidigt.“ Das deutsche Männerbild sei Ausdruck „feigen Appeasements gegenüber dem Zeitgeist“ und eine „feministische Außenpolitik“ würde im Kreml vor allem Amüsement hervorrufen. Als Fazit warnte er: „Entweder wir steuern um oder wir sind irgendwann dran.“
Putin, der Poschardts Verachtung für feministische und queere Emanzipation teilt, hätte diesem geistigen Dünnpfiff wohl Beifall geklatscht. Rechtspopulist*innen wie Erika Steinbach spitzten diese Positionen noch weiter zu: Auf Twitter führte sie einen Workshop zur sexuellen Orientierung und Identität in der Bundeswehr als Beweis dafür an, dass die deutsche Armee zielgerichtet ruiniert worden wäre. Sensibilisierung für Vielfalt wird verantwortlich gemacht für militärische Schwäche.
Mit Journalist*in JeJa Klein auf queer.de oder Historikerin Hedwig Richter in der Wochenzeitung Die ZEIT gab es glücklicherweise Stimmen, die hier klare Gegenpositionen bezogen. Doch vor dem Hintergund, dass im Krieg in der Ukraine queere Menschen für ihre Freiheit kämpfen und sterben – so verlor z. B. die LGBTIQ*-Aktivistin Eli Schtschemur bei einem Bombardement in Charkiw ihr Leben – erschien der Zynismus in dieser Debatte unerträglicher denn je.
Transfeindliche Doktorandin hält Vortrag an der Humboldt-Universität
Für die Lange Nacht der Wissenschaften am 2. Juli kündigte die Berliner Humboldt-Universität einen Vortrag zum Thema Zweigeschlechtlichkeit an – gehalten von Biologie-Doktorandin Marie-Luise Vollbrecht, die u. a. Mitautorin eines transfeindlichen Pamphlets in der Tageszeitung Die Welt gewesen war. Darin wurde das alte Narrativ aufgewärmt, dass queere Aktivist*innen mit ihrer „woken Transgender-Ideologie“ das Leben der Kinder gefährden. Die queere Karrieremesse Sticks & Stones hatte deswegen die Zusammenarbeit mit Springer beendet und den Verlag von der Messe ausgeschlossen.
Nach Protesten von Studierenden, die nicht wollten, dass die Uni für eine transfeindliche politische Agenda missbraucht wird, wurde der Vortrag nicht etwa abgesagt, sondern lediglich um gut zwei Wochen verschoben. Zahlreiche Medien und auch Politiker*innen beklagten daraufhin „Cancel Culture“ und sahen die Wissenschaftsfreiheit in Gefahr. Der Vorwurf der Transfeindlichkeit schien demgegenüber kaum Gewicht zu haben.
Zum Glück gab es auch Stimmen, die deutlich machten, dass sich hier unter dem Deckmantel der Wissenschaft gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zeigte. Mitte Juli holte Vollbrecht dann ihren Vortrag an der HU nach – ohne sich kritischen Fragen zu stellen oder an einer danach angesetzten Podiumsdiskussion zum Thema „Kontroversen an Universitäten“ teilzunehmen.
Als SIEGESSÄULE daraufhin einen Artikel zum Thema auf Facebook veröffentlichte, zeigte sich darunter in Hunderten beleidigenden Kommentaren die hässliche Fratze der Transfeindlichkeit. In einer ebenso unerträglichen Täter-Opfer-Umkehr sah Vollbrecht eine Rufmordkampagne gegen sich im Gange und versuchte mithilfe einer Spendenkampagne für Rechtshilfe sich gegen ihre Kritiker*innen juristisch „zur Wehr zu setzen“.
Der Fall steht dabei stellvertretend für die zahlreichen Versuche in diesem Jahr, Transfeindlichkeit zu befeuern. Vorrangiges Ziel der Hetze, die u. a. von Medien wie Welt oder Emma forciert wurde, dürfte wohl sein, das von der Regierung geplante Selbstbestimmungsgesetz und die Abschaffung des überholten „Transsexuellengesetzes" zu verhindern.
Bundeswehr-Skandal um trans Aktivistin Anastasia Biefang
Die Bundeswehr – nicht gerade mit einem diversen und sexuell offenen Image behaftet – zeigte ihr wahres Gesicht im Skandal um die Offizierin Anastasia Biefang. Die bekannte trans Aktivistin bekam einen disziplinarischen Verweis, der im Mai durch das Bundesverwaltungsgericht bestätigt wurde.
Biefang hatte auf einer Dating-Plattform mit den Worten „Spontan, lustvoll, trans*, offene Beziehung und auf der Suche nach Sex. All genders welcome“ nach Sexkontakten gesucht. Die Bundeswehr sah ihre „moralische Integrität“ gefährdet und fürchtete, die Streitkräfte könnten Schaden nehmen. Im Oktober legte Biefang beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde ein und begründete dies unter anderem mit: „Bloße Moralvorstellungen dürfen nicht Grundlage von Grundrechtseingriffen sein.“ Während man gespannt den Ausgang des Verfahrens abwartet, bleibt die nüchterne Erkenntnis, dass Soldat*innen wie Anastasia Biefang als Feigenblatt herhalten müssen, damit sich „Die Truppe“ modern geben kann.
Eine gute Reaktion darauf gab es zumindest von dem Verein Queer in der Bundeswehr (QueerBW). Zum 10. Deutschen Diversity-Tag am 31. Mai antwortete er mit der Aktion „Sex ist Privatsache – Raus aus unserem Bett“ auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts gegen Anastasia Biefang. Um gegen das Urteil Stellung zu beziehen, übergab der Verein Dating-Profile von Soldat*innen, Reservist*innen und Beamt*innen dem Bundesministerium der Verteidigung. Er forderte die Politik auf, „unverzüglich Vorkehrungen zu treffen“, damit „das Privatleben der Soldat:innen Privatsache bleibt“.
Liberale Moschee erhält Morddrohungen
Die Berliner Ibn Rushd-Goethe Moschee wurde dieses Jahr mit Hass und Morddrohungen überhäuft. Bereits früher gab es Anfeindungen gegen die liberale Moschee, die 2020 eine Anlaufstelle für queere Muslim*innen initiierte. Doch nachdem sie zum diesjährigen Pride-Monat die Regenbogenfahne hisste, spitzte sich die Situation zu. Nachrichten wie „Hoffentlich wird einer von euch auf offener Straße enthauptet“ erreichten die Moschee regelmäßig und in großem Umfang über Social Media oder auch per E-Mail. Die Hassnachrichten wurden zur Anzeige gebracht, doch in der Folge passierte kaum etwas.
Tugay Sarac (Foto), Koordinator der Anlaufstelle für Islam und Diversity bei der Moschee, spricht im Interview mit SIEGESSÄULE von „zehn Strafbefehlen bei 300 Anzeigen“. Wenn man Glück habe, erhalten die Straftäter*innen eine kleine Geldstrafe. Aufgrund der in den Hassnachrichten enthaltenen Formulierungen geht die Moschee davon aus, dass es sich hier vor allem um Menschen mit einem extremen Islamverständnis handelt, die LGBTIQ* ablehnen.
Um mit dem Gefühl der Angst und Bedrohung nicht allein zu sein, wünschen sich die Mitarbeiter*innen der Moschee eine sichtbare Solidarität mit ihrer Gemeinde, sowohl aus der Zivilbevölkerung als auch aus der Politik. Diese ist leider bisher weitgehend ausgeblieben. „Ich glaube, viele Menschen, die es gut meinen, haben die Sorge: Wenn wir das ansprechen, bedienen wir islamfeindliche Narrative. Sie haben Angst, mit ihrer Kritik an islamistischer Hetze den Rechten zuzuspielen“, sagt Tugay. Doch gleichzeitig betont er, dass man mit dieser Haltung den Rechten in die Hände spielen und ihnen das Thema überlassen würde.
Gerüchteküche um Berghain-Schließung
„Das Berghain macht dicht“, „Die Berghain-Macher haben keine Lust mehr“ – so oder so ähnlich lauteten die Schlagzeilen, die Mitte Oktober die Feierwütigen in Panik versetzten. Sollte das Berghain, der Inbegriff der Berliner Clubkultur, tatsächlich schließen? Die Antwort lautet: Nein! Denn bei der u. a. von n-tv, der Berliner Zeitung und dem Tagesspiegel lancierten Nachricht handelte es sich um eine Zeitungsente, die lediglich auf einem spekulativen Facebook-Post eines „sehr gut in der Szene vernetzten Insiders“ beruhte – so die Titulierung von Fazemag, das die Nachricht als erstes in Umlauf brachte. Bei dem angeblichen „Insider“ handelte es sich um Jürgen Laarmann, ehemaliger Herausgeber der Zeitung Frontpage, der seinen Post kurze Zeit später als Fehlinfo bezeichnete.
Zu diesem Zeitpunkt hatten deutsch- wie englischsprachige Medien die Falschmeldung bereits zu einer großen Story aufgebauscht, die für ordentlich Klicks gesorgt haben dürfte. Auch nachdem die Info längst als Quatsch entlarvt worden war, waberte das Gerücht noch weiter durch die Medien. Zugegeben, dass sich die Berghain-Betreiber grundsätzlich nicht gegenüber der Presse äußern, ist einer ausgewogenen Berichterstattung kaum zuträglich. Und nachdem sowohl das Berghain-Label OstgutTon als auch die hauseigene Agentur Ostgut-Booking vor kurzem eingestellt worden waren, stellte sich die Frage nach der Zukunft des Clubs durchaus. Doch dass selbst seriöse Medien eine derart zweifelhafte Quelle als Basis ihrer Artikel nutzten, um vielleicht ein paar Klicks zu generieren, ist schon ein ziemlicher Flop.
Räume weg: Lesben-Organisationen wurde gekündigt
Die Mietverträge wurden gekündigt. Bis Ende 2022 müssen die Rad und Tat Berlin gGmbH, die sich um die Umsetzung des bundesweit einzigartigen Lesbenwohnprojekts kümmert, und der Dachverband Lesben und Alter aus ihren Räumen im Unternehmerinnen-Centrum West (UCW) raus. Der Grund: Das zuständige Bezirksamt will das Gebäude 2023 sanieren und dann dort ein neues Konzept verwirklichen. Der Dachverband und die Rad und Tat gGmbH verlieren mit dem UCW einen wichtigen Frauenort, an dem sie zu vergleichsweise günstigen Mieten arbeiten konnten. Besonders ärgerlich: Das Lesbenwohnprojekt steckt gerade in der heißen Phase! 2023 soll der Bau in der Berolinastraße beginnen. Gerade jetzt vor die Tür gesetzt zu werden, grenzt an ein ziemliches Desaster. Es stellt sich auch die Frage, ob irgendeinem der Verantwortlichen die Bedeutung dieses Projekts bewusst war.
Der Bezirk plant das UCW nach der Sanierung weiter als Frauenraum zu erhalten, aber dabei vor allem Unternehmer*innen zu unterstützen, die sich gerade in der Gründungsphase befinden. Das klingt nicht schlecht! Doch Jutta Brambach, Leiterin des Wohnprojekts und Vorständin beim Dachverband, fühlt sich vom Bezirk im Stich gelassen. Eine gemeinsame Suche nach einer Lösung sowohl für die Zeit der Sanierung als auch für die Zeit nach dem Umbau habe es laut Brambach nicht gegeben. Die vom Amt gemachten Angebote stellen in keinster Weise eine Option dar, die den Projekten gerecht wird. „Frauenförderung ist das nicht“, lautet Brambachs deutliche Kritik.
Nach intensiver Suche haben die Organisationen nun selbstständig eine Lösung gefunden - und das so ziemlich im letzten Moment: Mitte Dezember konnte man einen Mietvertrag für Räume in der Friedbergstr. in Charlottenburg unterschreiben, in dem der Dachverband und das Wohnprojekt ab Januar einziehen können. Der Mietpreis für das neue Büro ist natürlich deutlich teurer. Wer beim Umzug helfen möchte, kann sich telefonisch oder per Mail an das RuT-Wohnprojekt wenden.
Gloria von Thurn und Taxis hetzt gegen Homosexuelle
Von der Heute Show bekam Gloria von Thurn und Taxis in diesem Jahr verdienterweise den Goldenen Vollposten verliehen, ab Minute 4:12
Mit ulkigen Frisuren wurde Gloria von Thurn und Taxis in den 80ern zur Skandalnudel – einen Ruf, den die Möchtegern-Fürstin auch in den letzten Jahrzehnten verteidigte: und zwar mit frauenfeindlicher, rassistischer und homophober Hetze. Auch 20 Jahre später erinnert man sich noch mit Grauen an ihre rassistische Erklärung für die hohe Zahl an Aidskranken auf dem afrikanischen Kontinent in der TV-Talkshow „Friedman“, die wir hier nicht wiederholen wollen. Anfang Dezember entgleiste sie erneut, wenn auch nur im YouTube-Kanal von Ex-Bild-Chef Julian Reichelt. Denn dort lässt sich Homosexualität immer noch ungestört vom Moderator verunglimpfen.
In ihrer durchgeknallten Hasstirade gab sie u. a. sinngemäß zu verstehen, dass die „One Love“-Armbinde der Fußball-WM bestenfalls als Symbol dafür herhalten könne, dass der Träger seine tierischen sexuellen Instinkte nicht unter Kontrolle habe. Sie negierte die strafrechtliche Verfolgung von Homosexuellen in Ländern wie Katar mit den Worten: „Im Nahen Osten gibt es genauso viele Schwule wie bei uns. Nur, dass sind halt anständige Leute, die aus religiösen Gründen ihr Schlafzimmer und ihre Sexualität etwas diskret behandeln.“ Selbstentlarvender Unsinn, jenseits aller Fakten. Immerhin inspirierte dieser die DGB-Jugend Oberpfalz zu einer sympathischen Aktion: Vor dem Schloss Thurn und Taxis in Regensburg forderten sie unter dem Motto „Nieder mit dem Möchtegern-Adel“ die Enteignung der sogenannten Fürstin. Dazu gibt es noch die schöne Website „Thurn und Toxisch“, die über die Verfehlungen der Dame informiert.
Gendern als Feindbild: ZDF-Fernsehgarten löst rechten Shitstorm aus
Andrea Kiewel, Moderatorin des ZDF-Fernsehgartens, hatte 2022 einen regelrechten Lauf, der sie von einem Fettnapf zum anderen führte. Musste sie sich gerade noch für ihr antiquiertes Frauenbild kritisieren lassen, das sie gern auch mal in unangemessenen Fragen an ihre Gäste zur Schau stellt, brach sie gleich darauf einen Shitstorm um Deutschlands aktuelles Feindbild Nummer eins vom Zaun: das Gendern! Kiewel, die ihre Zuschauer*innen im letzten Jahr mit dem Brüller „Menschen und Menschinnen“ begrüßte, versuchte sich Anfang August etwas erfolgreicher in geschlechtergerechter Sprache mit dem Wort „Singer-Songwriter*innen“. Dabei fügte sie allerdings ans Publikum gerichtet hinzu: „Nicht das Gesicht verziehen, ich muss.“
Im Netz tobte es – zumindest in der rechten Blase. Mache die Szene doch angeblich deutlich, dass Kiewel von den ZDF-Verantwortlichen zum Gendern gezwungen worden sei. Das bot den Empörten die Gelegenheit, sich in den Mythos einer allmächtigen Sprachpolizei hineinzusteigern, die nun selbst den Fernsehgarten bedrohe – wo man z. B. Ende Juli doch dort noch so ungestört zum Sexismus-Schlager „Layla“ schunkeln konnte.
Kiewel und das ZDF hätten sich fragen können, ob es wirklich notwendig war, in der extrem aggressiv geführten Debatte um geschlechtergerechte Sprache weiter Öl ins Feuer zu gießen. Kiewel ruderte jedenfalls kurz darauf zurück und beteuerte, alles sei nur ein Missverständnis gewesen. Das ZDF habe sie natürlich nicht gezwungen, sondern geschlechtergerechte Sprache liege ihr einfach am Herzen. Na dann, bis zum nächsten Fettnapf!
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