Interview

Tim Lienhard über seine Doku „Wenn nichts mehr geht, dann Gran Canaria"

9. Apr. 2025 Tim Schomann
Bild: 101 Movie GmbH
Filmstill aus „Wenn nichts mehr geht, dann Gran Canaria“ von Tim Lienhard

In der offenherzigen und authentischen Doku „Wenn nichts mehr geht, dann Gran Canaria" begibt sich Regisseur und Dragperformer Tim Lienhard auf die Kanareninsel und zeigt das bunte Treiben rund um den queeren Hotspot, dem Yumbo Center. Er porträtiert Menschen, die zwischen Älterwerden, Selbstfindung, Sex und Party ihren Platz suchen und finden

Tim, du hast Gran Canaria erst spät kennengelernt. Wie ist es dazu gekommen? Die Liebe war‘s! Ein Mann, den ich liebte, verbrachte jede freie Zeit auf Gran Canaria. Ich folgte ihm und verstand sofort, weshalb er sich dort so wohlfühlt. Ich war bis dahin Fan von Ibiza und habe die Sommer immer dort verbracht. Ibiza ist aber inzwischen an Snobismus und Eitelkeit kaum zu überbieten. Gran Canaria ist die deutlich menschlichere und bezahlbarere Variante.

Im Film geht es ums Älterwerden, sich Ausleben und auch um Aufmerksamkeit. Wieso ist Gran Canaria mit seinem Hotspot Yumbo Center ein geeigneter Ort dafür? Ältere Schwule haben sich schon immer auf Gran Canaria wohlgefühlt. Wenn sie es sich leisten konnten, haben sie sich dort sogar niedergelassen und ihren Ruhestand verbracht. Die Mischung aus alten Schwulen, die sich noch zeigen, Ausgehen und Spaß haben mit inzwischen immer mehr jungen Schwulen, die die Insel für sich entdecken, ist einfach genial.

„Generationsübergreifend wird hier ausgelassen gefeiert und dies vor allem im Yumbo Center, wo sich 200 queere Lokale befinden.“

Generationsübergreifend wird hier ausgelassen gefeiert und dies vor allem im Yumbo Center, wo sich 200 queere Lokale befinden. Von der Karaoke-Bar, über Dragshows und Clubs bis hin zu Bars mit Darkroom. Es ist ein queerer Tummelplatz, wie ich ihn sonst auf der Welt nirgendwo in dieser Dichte erlebt habe. Da ich in Drag unterwegs bin, kann ich mich dort wie auf einer großen Bühne präsentieren, ohne von einem Veranstalter engagiert worden zu sein und eine Performance hinlegen zu müssen. Ich bin die Performance an sich! In meiner grotesk sexualisierten Ausgestaltung eines sehr ungewöhnlichen Draglooks.

Bild: Jörg Dedering
Tim Lienhard, Regisseur der Doku

Einige Männer aus deinem Film haben auf der Insel ihre Heimat gefunden. Ist in unserer Zeit, die geprägt ist von konservativen Backlashes, Gran Canaria ein schwuler Sehnsuchtsort? Definitiv! Nirgendwo habe ich eine so große Freiheit empfunden, wie derzeit und hoffentlich noch für länger. Selbst Ibiza habe ich zuletzt als diskriminierend empfunden, was ich nie für möglich gehalten hätte. Aber die Ausweitung der Kommerzzonen für Reiche und für den unterhaltungssüchtigen und konsumfreudigen Mainstream, verdrängt schon seit langem die Schwulen auf den Balearen. Auf Gran Canaria ist das noch anders. Wer weiß, wie lange noch ...

Dein Film zeigt ein Nebeneinander von Freiheit und bei sich angekommen sein auf der einen und Körperkult und dem Umgang mit dem Älterwerden auf der anderen Seite. Ist einem das immer so bewusst oder besteht genau darin der Reiz? Meine Freiheit, von der ich in meinem Film erzähle, musste ich mir hart erarbeiten.

„Ich hatte eine Phase, in der ich nicht anders als jeder Mainstream-Schwule gelebt habe. Viel Eitelkeit, viel Sex und Party. Wirklich frei war ich da nicht.“

Ich hatte eine Phase in meinem Leben, in der ich nicht anders als jeder Mainstream-Schwule gelebt habe. Viel Eitelkeit, viel Sex und Party. Wirklich frei war ich da nicht. Ich rannte wie besessen ins Sportstudio, orientierte mich nach oben; nach denen, die noch besser aussahen. Ich triumphierte bei jedem erfolgreichen Cruisen und Daten, bewegte mich aber eben unfrei in den als maßgeblich angesehenen Koordinaten. Drag sprengt dieses Koordinatensystem des Homonormativen! Ja, ich bin der Meinung, dass es nicht nur Heteronormativität gibt, sondern auch eine Homonormativität. Sich davon zu befreien, setzt enorm großes Selbstbewusstsein voraus. Für diese Freiheit, die ich lebe, bedarf es einer gewissen Frechheit und Unabhängigkeit. Es braucht Mut und Überwindung von Scham. All dies ist mir heute mit 65 besser möglich denn je.

Welche Reaktionen hast du bisher auf deinen Film bekommen? Von Begeisterung bis Ablehnung. Der Film ist unkonventionell, weil er nicht einen moralischen Opferton anschlägt, der so gerne auf Filmfestivals präsentiert wird. Außerdem präsentiert sich hier ein weißer, alter, schwuler cis Mann ganz selbstbewusst. Darf das sein? Von einem Filmfestival wurde mein Film mit dem Argument abgelehnt, er sei in „Ausdruck und Darstellung etwas zu explizit“! Klingt nach Porno. Mit großem Erstaunen sehe ich dann auf genau diesem Festival einen queerfeministischen Film, in dem nichts ausgelassen wird, was in einem Porno zu sehen ist.

„Männer sind die Protagonisten. Pornodarsteller, schwule Männer, sexpositive Männer und Männer in Frauenkleidern, also Crossdresser.“

Männer sind die Protagonisten: Pornodarsteller, schwule Männer, sexpositive Männer und Männer in Frauenkleidern, also Crossdresser. Genau in diesem Nonkonformen liegt die Freiheit, die ich meine. Sie grenzt nicht aus, aber sie schließt auch nicht alles mit ein. Diese Ehrlichkeit, die ich von einem so persönlichen Selbstportraä, was der Film auch ist, erwarte, ist genau die Qualität, die den Film letztendlich auszeichnet.

„Wenn nichts mehr geht, dann Gran Canaria"
Deutschland, 2025
Regie: Tim Lienhard
Premiere: 10.04., 19:30
10.04. + 15.04. + 17.04., 20:00
17.04., 18:15
Babylon Berlin

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