Homophobes Attentat bei den Olympischen Spielen

„The Front Runner“: Patricia Nell Warrens Olympia-Roman

30. Juli 2024 Kevin Clarke
Bild: Bantam Cover
The Frontrunner war in den USA ein Erfolg, während in Deutschland fast niemand das Buch kennt.

1974 erschien Patricia Nell Warrens Olympia-Roman „The Front Runner“ in den USA. Als erstes Buch in der Kategorie „Contemporary Gay Fiction“ schaffte es der Titel auf die Bestsellerliste der New York Times. Es sei „die bewegendste, monumentalste Liebesgeschichte, die je über schwules Leben geschrieben wurde“ – derweil kennt in Deutschland fast niemand das Buch

Als bei einem queeren Filmfestival in Barcelona Anfang der 2000er-Jahre die US-Autorin Patricia Nell Warren als Jurymitglied auftauchte, fielen die anwesenden schwulen Männer vor ihr geradezu auf die Knie. Sie wurde verehrt wie eine Heilige, die sogar Oscarpreisträger Rob Epstein in den Schatten stellte, wie sich eine Kollegin erinnert, die mit beiden in besagter Jury saß. Sie konnte das nicht verstehen, weil Warrens Roman „The Front Runner“ in Deutschland nahezu unbekannt geblieben ist. Obwohl er international eine Art Urknall ausgelöst hatte und das zentrale Buch war, mit dem schwul-lesbische Themen im Mainstream durchbrachen. Sogar Hollywoodlegende Paul Newman machte zeitweise Schlagzeilen mit Plänen einer Verfilmung.

In Deutschland hatte zwar der Verlag Droemer Knaur 1987 – mit 13 Jahren Verspätung – den „Langstreckenläufer“ als deutsche Erstausgabe herausgebracht, übersetzt von Gabi Burkhardt. Aber das Buch (mit dem Motiv des US-Originalcovers auf dem Titel) erschien im Rahmen einer umfangreichen Reihe mit schwulen Unterhaltungstiteln, es stach darin kaum hervor und wurde von Literaturkritiker*innen nicht als irgendwie besonders gewürdigt. Im Gegenteil, es wurde überhaupt nicht gewürdigt.

Als SIEGESSÄULE-Autor Klaus Sator Anfang der 2000er-Jahre die Wanderausstellung „Gegen die Regeln – Lesben und Schwule im Sport“ kuratierte, bemerkte er bei Veranstaltungen, dass das Buch in der LGBTIQ*-Community kaum bekannt war. Er sagt heute rückblickend zu SIEGESSÄULE: „Im Ergebnis meiner Forschungen bin ich zu der Feststellung gelangt, dass ganz allgemein Schwule und Lesben im Sport innerhalb der Bewegung im deutschen Kulturkreis damals noch kaum ein Thema waren. Jedenfalls nicht in dem gleichen Maße wie in der Musik, der Literatur, der Malerei oder im Film. Von den Schwulenaktivisten dieser Zeit haben nur wenige selbst aktiv Sport betrieben. Und schwule Sportler sowie lesbische Sportlerinnen habe ihre sexuelle Identität selten nach außen hin gezeigt. Sie hatten lange Zeit auch kaum Kontakt zu Vertretern der Lesben- und Schwulenbewegung. Dies erklärt vielleicht, dass Warrens Buch zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung in Deutschland weniger Aufmerksamkeit gefunden hat als z. B. in den USA, wo Lesben, Schwule und Sport schon länger in der Öffentlichkeit und in der Wissenschaft ein Thema waren. In der deutschen Bewegung war das Thema Sport lange Zeit nicht existent. Man wird kaum Sportler in den damals veröffentlichten Büchern mit Porträts zu bekannten Schwulen und Lesben finden.“

„Man wird kaum Sportler in den damals veröffentlichten Büchern mit Porträts zu bekannten Schwulen und Lesben finden.“

Es war dann erst der schwule Berliner Verleger Bruno Gmünder, der die Wichtigkeit dieses Buchs erkannte und parallel zu Sators Ausstellung 2001 eine neue deutsche Taschenbuchausgabe herausbrachte, wiederum in der Gabi-Burkhardt-Übersetzung. Es folgte 2005 eine neu verpackte Ausgabe mit einem anderen Cover. Aber weil man den Gmünder-Verlag primär mit Pornos assoziierte – und die neuen Cover beide ziemlich softpornös aussahen –, nahm abermals niemand die Veröffentlichungen ernst. Auch eine 2006 herausgebrachte Hörbuchfassung mit dem blutjungen queeren Nachwuchsstar Thomas Wlaschiha (noch vor dem internationalen Durchbruch mit „Game of Thrones“ und „Stranger Things“) erregte keine Aufmerksamkeit. 2011 kam bei Gmünder auch die Fortsetzung der Geschichte als „Harlans Endspurt“ heraus. Der kleine Hamburger Argument Verlag hatte derweil sogar den dritten Teil der Geschichte unter dem etwas seltsamen deutschen Titel „Mission Himmelstürmer“ herausgebracht. Aber keine dieser Veröffentlichungen erregte einen medialen Splash.

Bild: Batam Cover
Cover der US-amerikanischen Erstausgabe von1974 „The Front Runner“.
So sind eine vielschichtige Geschichte und eine leidenschaftlich-aktivistische Autorin am hiesigen Markt komplett vorbeigegangen.

So sind eine vielschichtige Geschichte und eine leidenschaftlich-aktivistische Autorin am hiesigen Markt komplett vorbeigegangen, die es jedoch nach wie vor lohnt zu entdecken. Der deutsch-amerikanische Literaturwissenschaftler Nikolai Endres bereitet gerade eine Konferenz zum 50-jährigen „Front Runner“-Jubiläum vor und plant, Ende 2024 eine Essaysammlung unter dem Titel „Patricia Nell Warren: A Front Runner‘s Life and Works“ zu veröffentlichen, wie er zu SIEGESSÄULE sagte. Darin werde Warrens Bestseller auch verglichen mit aktuellen Entwicklungen auf dem Male-Male-Romance- und Fan-Fiction-Markt. Endres wird den „Front Runner“ mit seinen Sequels in der Septemberausgabe der renommierten „Gay & Lesbian Review“ in einem eigenen Jubiläumsartikel würdigen, die Zeitschrift man in Berlin u. a. in der Eisenherz-Buchhandlung bekommen.

Abrechnung mit Homophobie in der Sportwelt

Worum geht’s? „Der Langstreckenläufer“ schildert die Homophobie in der US-amerikanischen Sportwelt, vor und nach Stonewall. Die führt dazu, dass Mitte der 1970er drei junge Läufer namens Billy, Vince und Jacques aus ihren College-Teams fliegen, nur weil sie schwul sind. Sie wechseln an eine andere Uni zu einem (heimlich) schwulen Trainer namens Harlan, der es als seine Pflicht ansieht, den Jungs zu helfen, sich gegen das reaktionäre Sportsystem zu wehren. Die Vertreter dieses „Systems“ schalten nach und nach mit hanebüchenen Vorwürfen Vince und Jacques aus allen Wettkämpfen aus, können jedoch Billys Teilnahme an Olympia nicht verhindern. Es geht um die Olympischen Spiele von Montreal 1976, die zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung noch in der Zukunft lagen.

Als publik wird, dass Billy in einer Beziehung mit Harlan lebt, mit diesem in einer symbolischen Zeremonie geheiratet hat und mit ihm sogar Kinder haben will, um eine Familie zu gründen (wofür beide Sperma bei ihrem Arzt deponieren), gehen Konservative auf die Barrikaden. Sie empfinden eine solche öffentlich zur Schau Partnerschaft im Sport als Affront. Und dieses Ideal einer als ganz „normal“ gelebten Regenbogenfamilie als Beleidigung vermeintlich fundamentaler „amerikanischer“ Werte. Was dazu führt, dass ein Fanatiker Billy kurz vor der Zielmarke der 5.000-Meter-Strecke in Montreal abschießt. Er konnte nicht ertragen, dass ein Homosexueller nach dem 10.000-Meter-Sieg nochmals für die USA auf die Siegertreppe steigt und als Held der Nation mit einem Doppelsieg gefeiert wird.

Angesichts der Zustände in der Sportwelt heute, wo Homosexualität nach wie vor als Tabu gilt, aber auch angesichts der Anschlagsgefahr bei Sportevents, könnte man sagen, dass Warrens Buch aktueller ist denn je. In der erwähnten Fortsetzung von 1994, die im Original „Harlan’s Race“ heißt, diskutiert Warren, wie gewalttätig queerer Aktivismus sein sollte am Beispiel von Vince, der nach dem Attentat aus seinen Freund Billy zum radikalen LGBTIQ*-Kämpfer wird und brutal zurückschlagen will.

Im dritten Buch von 1997, das im Original „Billy’s Boy“ heißt, wird die Geschichte des Sohns von Billy und Harlan erzählt, der mit 13 verspätet erfährt, wer sein Vater ist und dass er Teil einer größeren LGBTIQ*-Familie ist, mit lesbischer Mutter und vielen queeren Freunden seiner Eltern. Das zu akzeptieren – auch seine unverhofft erwachenden (sexuellen) Gefühle für einen Jungen in seiner Klasse – wird von Warren in all der pubertären Konfusion brillant geschildert, wobei sie große Themen wie AIDS/HIV und die neuerliche Homophobie in der US-amerikanischen Gesellschaft der 1980er- und frühen 90er-Jahre immer wieder in den Diskurs einbezieht. Das Buch wurde wiederum ein Bestseller im Englischen, allerdings nicht von „Front Runner“-Ausmaßen.

Ein vierter Teil, „Virgin Kisses“, den Warren bis kurz vor ihrem Tod 2019 schrieb, ist vom Nachlassverwalter noch nicht zur Veröffentlichung freigegeben worden, erklärt Nico Endres. Sehr zum Ärger vieler Fans, wie Endres betont.

Zwischen Empathie und Politik

Der Sensationserfolg von „Front Runner“ sorgte Mitte der 1970er-Jahren dafür, dass die Bestsellerautorin Marion Zimmer Bradley ein 20 Jahre altes Manuskript aus der Schublade holte, das als unveröffentlichbar galt. 1979 brachte sie „The Catch Trap“ (dt. „Trapez“) heraus, eine ergreifende, aber kontroverse schwule Liebesgeschichte in der Zirkuswelt der 40er- und 50er-Jahre. Warren wiederum schrieb noch andere Bücher wie „The Fancy Dancer“ über einen katholischen Kleinstadtpriester, der sich in einen Native American verliebt. Was in seiner Gemeinde für heftige Kontroversen sorgt, die Warren auf ihre ganz eigene Weise löst. Später schrieb sie mit „The Wild Man“ (dt. „Torero“) ein Buch über einen schwulen Stierkämpfer im faschistischen Spanien, der sich mit seiner Liebe zu einem Bauernjungen namens Juan in seinem Umfeld – familiär und beruflich – arrangieren muss. Endres hält dieses Buch literarisch für Warrens bestes, sagt er zu SIEGESSÄULE. Auch wenn „The Front Runner“ das wichtigste bleibt.

Was all diesen Büchern gemein ist: Sie erzeugen Empathie und sind randvoll mit explosiven politischen Themen, über die auch 50 Jahre später noch intensiv debattiert wird. Und: Warren kannte sich (ebenso wie Zimmer Bradley) in der schwul-lesbischen Welt bestens aus. Was man von den meisten heutigen MM-Romance-Autor*innen nicht behaupten kann, besonders wenn sie sehr eindimensionale Romane mit Sportwelt-Setting veröffentlichen, wo’s kaum um mehr als „Liebe“ geht, was bei Warren (und Zimmer Bradley) jeweils nur Aufhänger für weit größere gesellschaftliche Auseinandersetzungen ist.

Insofern bleibt „Der Langstreckenläufer“ eine Publikation, von der man nur hoffen kann, dass ein deutscher Verlag endlich eine hochwertige Übersetzung aller drei Teile auf den Markt bringt – idealerweise sogar aller vier Teile. Auch eine etwas weniger „billig“ wirkende Ausgabe der Audio-Fassung mit Tom Wlaschiha bleibt ein Desiderat. Die Olympischen Spiele, die derzeit in Paris laufen, wären dafür eigentlich ein idealer Anlass gewesen. Oder das 50-jährige Jubiläum!

Bild: John R. Selig
Bis kurz vor ihrem Tod 2019 schrieb die Autorin Patricia Nell Waren am vierten Teil der Buchreihe.

Patricia Nell Warren:
Der Langstreckenläufer (dt. v. Gabi Burkhardt)
Knaur Verlag bzw. Gmünder Verlag / Salzgeber, 420 Seiten

Harlans Endspurt (dt. v. Marc Staudacher)
Gmünder Verlag /Salzgeber, 380 Seiten

Mission Himmelstürmer (dt. v. Stefan Haußmann)
Argument Verlag,344 Seiten
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Marion Zimmer Bradley:
Trapez (dt. von Gunther Angerstein & Robert Forst)
Krüger Verlag bzw. Heyne Verlag, 815 Seiten

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