Reportage

Sucht und Co-Abhängigkeit

22. Dez. 2020 Amanda Beser
Bild: canva

Angehörige von Suchterkrankten leiden oft jahrelang mit, die Sucht der ihnen nahestehenden und geliebten Person bestimmt auch ihr Leben: Sie sind co-abhängig. Dabei empfinden viele es als ein Tabu, über ihr eigenes Leiden zu sprechen. Die Gruppe „Beifahrer“ ist die erste explizit queere Selbsthilfegruppe für Betroffene in Berlin

Die Motivation, die Gruppe zu gründen, waren mein eigener Hintergrund als Betroffener und das fehlende Angebot in Berlin“, sagt Michael Gehring. Er ist Initiator von „Beifahrer“, einer offenen Selbsthilfegruppe für Angehörige queerer Menschen mit Substanzkonsum, die in Zusammenarbeit mit der Schwulenberatung entstanden ist. „Mein Partner ist vor eineinhalb Jahren verstorben. Als offizielle Todesursache wurde ein Herzinfarkt mit 33 Jahren angegeben. Eigentlich starb er jedoch an fehlender Eigenliebe, dem Verdrängen von Erlebtem mittels Alkohol und Drogen sowie Psychosen, die ihm Schmerzen bereiteten. Er war dadurch nur bedingt lebensfähig, was für mich als Partner sehr schwer zu bewältigen war. Es gab zwar damals Angebote für suchtkranke Menschen in Berlin, aber keine für ihre Angehörigen.“

Sogenannte Co-Abhängigkeit kann sowohl Partner*innen, Verwandte, Freund*innen oder andere nahestehende Personen von Suchtkranken betreffen. Sie leiden daran, die Begleiterscheinungen der Sucht ihres geliebten Menschen mitzubekommen, sie erleben und tragen die negativen Erfahrungen der Sucht und die Folgen der Krankheit mit. Das kann das eigene Leben massiv beeinträchtigen, wie Michael Gehring erklärt. „Mitzuerleben, wie jemand Geliebtes komplett den Halt verliert, abdriftet und immer wieder zu Substanzen greift, gehört zu den Erfahrungen, die Co-Abhängige machen. Aber auch die Schwierigkeit, zu erkennen, wann die Person externe Hilfe benötigt oder wo die eigenen Kraftressourcen enden.“

Angehörigenzentrierte Therapie

Dies alles ohne externe Hilfe zu bewältigen kann sehr hart sein. Einige, wenn auch noch wenige Therapeut*innen in Deutschland haben sich deshalb im Umgang mit Suchterkrankungen auf die „angehörigenzentrierte Therapie“ spezialisiert. Zu ihnen gehört zum Beispiel der Bielefelder Psychotherapeut Jens Flassbeck. Aus seiner Arbeit weiß er, ab welchem Zeitpunkt Co-Abhängigkeit problematisch werden kann: nämlich immer dann, wenn sich die Betroffenen „selbst nicht mehr fühlen“. Sie seien oft „erschreckend erschöpft“, erzählt Flassbeck im Gespräch mit SIEGESSÄULE, „ausgemergelt, zeigen depressives Verhalten, haben somatische Erscheinungen und sind in ständiger Furcht vor den Folgen der Suchterkrankung ihres Partners oder ihrer Partnerin“. Diese Probleme versuchen die Betroffenen oft vor der Außenwelt zu verstecken. „Sie lächeln ständig, auch und gerade, wenn es wehtut. Sich Hilfe zu suchen ist für sie vergleichbar mit dem Ausbruch aus einem Schamgefängnis.“

Fehlende Forschungsarbeit

Während das Sprechen über Sucht in den letzten Jahren gesellschaftlich stärker angenommen wird, sieht es bei Co-Abhängigkeit ganz anders aus. „Es sind eher Einzelpersonen und Leuchtturmprojekte, die sich bemühen, Hilfeangebote für Betroffene zu schaffen“, fasst Jens Flassbeck zusammen, „während gleichzeitig so gut wie keine Forschung in Deutschland dazu betrieben wird und kaum Bücher und Veröffentlichungen zu dem Thema erscheinen.“ Die Probleme, die die Kinder von Suchterkrankten haben, waren durchaus schon Thema von Debatten im Bundestag. Eine umfassende politische Initiative, sagt Flassbeck, fehle aber nach wie vor. „Obwohl das Thema seit 40 Jahren gut bekannt ist, wird es immer wieder unter den Tisch gekehrt.“

„Schmerzhaft ist der Wunsch, dass mein Partner von seiner Krankheit Befreiung findet. Aber ich weiß inzwischen, dass ich darauf keinen Einfluss habe“

So verwundert es nicht, dass das Wissen, was Co-Abhängigkeit bedeutet, noch nicht sehr verbreitet ist – und Betroffene auch in ihrem näheren Umfeld auf Unverständnis stoßen. Weil es ihnen unangenehm ist, wenden viele sich anfangs nicht offen an ihre Freund*innen und ziehen sich eher zurück. Erst wenn das Problem zu groß geworden und allein nicht mehr zu stemmen ist, bitten Co-Abhängige ihr Umfeld um Hilfe. Und die Reaktionen, die sie bekommen, helfen nicht immer. Es fallen Sätze wie: „Sieh zu, dass du ganz schnell aus dieser Beziehung kommst! Trenn dich!“ Oder: „Das schaffst du nicht! Das ist gefährlich.“ Aus Michael Gehrings Erfahrungen seien dies „die Standardreaktionen der Mitwelt.“ Den gut gemeinten Ratschlägen können die Betroffenen allerdings nur schwer folgen, „weil sie ihre*n Partner*in lieben, er oder sie für sie wichtig ist und ihnen viel bedeutet“. Dies kann zu einem Teufelskreis der Isolation führen: Um den Kommentaren des Umfelds zu entgehen, ziehen Betroffene sich noch mehr zurück. „Kein Wunder!“, findet Gehring. „Man erlebt ja ganz viele tolle und außergewöhnliche Momente mit der nahestehenden Person. Man erfährt Liebe und Zuneigung und das über einen längeren Zeitraum. Da ist es natürlich schwer vorstellbar, das alles aufzugeben. Auch wenn dann immer wieder in Intervallen dunkle Zeiten auftreten: der Substanzkonsum eben.“ Viele bleiben bei ihrem oder ihrer Partner*in und merken gar nicht, wie viel Kraft und Energie sie verlieren, die sie eigentlich für sich selbst brauchen. Mit dem eigenen Leben zurechtzukommen, dafür fehlt dann unter Umständen plötzlich das Fundament.

Familiäre Suchtbiografien

Viele der Betroffenen bringen bereits „familiäre Suchtbiografien“ mit, erklärt Flassbeck. Der Grund: Wie die Sucht an sich kann auch die Co-Abhängigkeit „transgenerativ“, das heißt, über die Generationen hinweg, in den Familien weitergegeben werden. „Aus Kindern suchtbelasteter Haushalte werden wiederum Partner*innen von Süchtigen. Daher ist es so wichtig, über das stumme Leiden der Betroffenen zu sprechen.“ Das „Schweigenbrechen“ könne dann einsetzen, wenn das Gefühl für sich selbst zurückkehrt: „Die eigene Geschichte einordnen, erinnern, das Fehlende versprachlichen. Kindheit aufarbeiten, aufgestaute Bedürfnisse ernst nehmen – das ist schmerzhaft, aber für den Gesundungsprozess entscheidend.“

Hilfsangebote

Das eigene Leiden ernst zu nehmen ist dementsprechend wichtiger erster Schritt für Betroffene. So war es auch für Chris (Name von der Redaktion geändert). Er kommt regelmäßig zu den Treffen der Selbsthilfegruppe „Beifahrer“. „Bis ich den Begriff der Co-Abhängigkeit verstanden hatte, brauchte ich ziemlich lang“, erinnert er sich. „Ich hatte in der Vergangenheit bereits nach Hilfe gesucht und wurde in psychologischen Einrichtungen vorstellig, wollte mit einer Therapie anfangen. Es dauerte ungefähr ein halbes Jahr, bis ich eine Einrichtung fand, die mich auch aufnehmen wollte. Viele haben mich mit den Worten abgewiesen, dass ich ja gesund sei – und nur mein Partner krank.“ Eine explizit schwule oder queere Gruppe gefunden zu haben, in der er sich austauschen kann, empfindet Chris als sehr hilfreich. „Ich war bei der Suchtberatung und bei der Caritas, in anderen Selbsthilfegruppen, aber so richtig wohlgefühlt habe ich mich dort nicht. Das Angebot wurde eher von älteren hetero Vätern und Müttern wahrgenommen, deren Kinder suchtkrank sind. Erst in den ,Beifahrer‘-Treffen wurde ich mit meinen Sorgen und Erfahrungen verstanden.“ Dadurch, dass der Leiter Michael Gehring selbst betroffen war, könne er der Gruppe sehr viel geben, findet Chris. „Micha hat selbst eine Menge erlebt und mich in meinem Heilungsprozess bereichert. Im Gegensatz zu den vorigen Gruppen, die ich mir angeschaut habe, ist ,Beifahrer‘ sehr besonders. Sie ist auf queere Menschen zugeschnitten.“

Auch Michael Gehring freut sich, dieses spezielle Angebot in Berlin schaffen zu können. Als er damals selbst nach Hilfe suchte, erinnert er sich, wünschte auch er sich, mehr noch als therapeutische Unterstützung, den gegenseitigen Austausch und Support. „Ich dachte, dass das, was ich mit meinem Partner erlebt hatte, schon heftig war. Aber seit wir uns mit ,Beifahrer‘ treffen, lerne ich noch ganz andere Schicksale kennen. Wir sind eine Gruppe, die von dem Wissen lebt, dass wir als Betroffene nicht allein sind.“

Schuldlosigkeit der Betroffenen

Und in den Treffen von „Beifahrer“ geht es nicht nur um Alkohol- und Drogenkonsum oder um psychische Probleme, sondern ebenso um andere, ermutigende Themen: wie Liebe, Queersein oder das Leben in der Stadt. „Viele Co-Abhängige haben durch die extremen Situationen, die die Suchterkrankung des Partners mit sich bringt, einen Tunnelblick bekommen“, sagt Gehring. „Auch Co-Psychosen und Mitkonsum können Thema sein, weil man sich unentwegt fragt, wie dem oder der Partner*in geholfen werden kann.“ Ganz wichtig ist dann ein offener Umgang mit dem Thema Schuld. Beziehungsweise: mit der Schuldlosigkeit von Betroffenen. Denn vielen fällt es schwer, den Gedanken zuzulassen, dass sich das eigene Leben um mehr drehen darf als nur um das Wohlergehen des geliebten Menschen.

So berichtet Chris: „Ein schmerzhafter Punkt, der nach wie vor in meinem Herzen ist und der mich, wenn er hochkommt, zum Weinen bringt, ist der Wunsch, dass mein Lebenspartner irgendwann von seiner Krankheit Befreiung findet. Aber ich weiß inzwischen, dass ich darauf keinen Einfluss habe.“ Chris musste lernen, sich besser abzugrenzen und dafür zu sorgen, dass es auch ihm selbst gut geht, nicht nur seinem Partner. „Wir sind schon sehr, sehr lange zusammen, und da ist die Liebe, die uns verbindet. Vieles ist nicht ganz so einfach, man hängt aber aneinander. Das macht es schwer.“

In co-abhängigen Beziehungen eine positive Veränderung zu schaffen, das brauche viel Mut, so das Fazit von Michael Gehring. Er ist froh über jeden und jede, der oder die es in die Gruppe schafft: „Das Entscheidende ist das Ankommen. Keine*r ist verpflichtet die komplette eigene Geschichte zu erzählen. Was zählt, ist das offenere Umgehen mit der eigenen Situation.“

Selbsthilfegruppe „Beifahrer“ für Angehörige queerer Menschen mit Substanzkonsum, 2. und 4. Mittwoch im Monat, 20.00 – 21.30 Uhr, Niebuhrstr. 59/60

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