Spätes Coming-out: Warum's bei manchen länger dauert
Selbst in Zeiten, in denen Queers in Medien und der Öffentlichkeit relativ präsent sind, gibt es viele Menschen, die erst zu einem späten Zeitpunkt ihrer Biografie ein Coming-out als LGBTIQ* wagen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Doch mit einem späten Coming-out sind auch besondere Herausforderungen verbunden, die meist einen deutlich langwierigeren Prozess der Selbstfindung erfordern. Anlässlich des Coming-out-Tages am 11. Oktober hat Michael G. Meyer die späten Coming-out-Geschichten verschiedener Berliner*innen zusammengetragen
„Ich fühle mich manchmal noch immer sehr zerrissen“, sagt die 34-jährige Sophie, die sich erst vor wenigen Jahren als queer outete. Sie war bereits früh Mutter und hat zwei Kinder aus einer Beziehung mit einem Mann. In ihrer Beziehung wurde sie mit der Zeit immer unglücklicher, es fühlte sich für sie einfach nicht mehr richtig an. Dennoch dauerte es, bis sie die Beziehung wirklich infrage stellte. „Das lag auch an meinem familiären Umfeld“, erklärt Sophie. „Ich weiß noch: Meine Mutter und meine Oma haben immer gesagt: Je mehr Kinder, umso glücklicher. Und ich habe das so hingenommen.“
Doch dann kam es zum Bruch und zu einer Umorientierung in ihrem Leben. Sophie gehört zu jenen Queers, die ein vergleichsweise spätes Coming-out hatten. Die Gründe dafür können sehr unterschiedlich ausfallen. Laut dem LSVD-Ratgeber für ein spätes Coming-out brauchen gerade Menschen, die erst im Verlauf einer Ehe ihre eigene queere Identität entdecken und die vielleicht schon Kinder haben, auch mehr Zeit für den Prozess des Coming-outs. Zwar stelle jedes Coming-out einen Wendepunkt in der eigenen Biografie dar, doch „eine solche Neu-Organisation des Selbst- und Lebensentwurfs wird umso grundlegender ausfallen, je mehr ,heterosexuelle‘ Biografie ein Mensch bis zu diesem Zeitpunkt bereits erworben hat“, heißt es dort. Zahlreiche Fragestellungen und Ängste können auftauchen: Was sind die familiären Konsequenzen? Wird es Anfeindungen geben? Was wird aus meiner Ehe? Wie reagieren Freund*innen und Kolleg*innen? Wie werden die Kinder damit umgehen?
„Dabei zerbrechen auch Beziehungen, das ist oft sehr belastend für die Frauen“
Gabriele leitet beim Verein Rad und Tat (RuT), Offene Initiative Lesbischer Frauen e. V., seit 2019 eine Coming-out-Gruppe für Frauen 40plus. Viele Frauen in der Gruppe sind sich noch unsicher, inwieweit sie lesbisch sind, manche haben schon einmal in einer lesbischen Beziehung gelebt. Einige der Teilnehmenden sind auch trans* oder nicht binär. Es gebe deswegen eine Vielzahl von Themen, die aufkommen, sagt Gabriele. „Bin ich nicht schon zu alt fürs Lesbischsein, wo lerne ich eine Frau kennen, wo bekomme ich überhaupt neue Kontakte und wie ist das mit der queeren Szene?“
Ein zentrales Problem sei zudem, dass viele der Frauen noch in Heterobeziehungen leben würden, oft im selben Haus oder in einer Wohnung mit ihrem Partner, auch das Thema Kinder spiele eine große Rolle. Eine der häufigsten Fragen sei: Wie sage ich es der Familie, den Freund*innen? „Dabei zerbrechen auch Beziehungen, das ist oft sehr belastend für die Frauen“, erzählt Gabriele. Bei fast allen Frauen, die zur Gruppe kommen, sei eine Verunsicherung zu spüren, wie das Leben nach dem Coming-out weitergeht.
Zerrissen zwischen zwei Welten
Bei Sophie war es ebenfalls so. Sie hatte zunächst kaum Freund*innen in der queeren Szene, auch deswegen stieß sie zur Coming-out-Gruppe bei „RuT“, bei der in Ausnahmefällen Frauen unter 40 zugelassen werden. So ganz ist das Gefühl der Unsicherheit immer noch nicht gewichen, erzählt sie. „Ich fühle mich in der queeren Szene nicht immer wohl, auch weil ich zwei Kinder habe. Andererseits fühle ich mich in der Heterowelt aber auch nicht wohl. Da gehöre ich nicht mehr hin.“ Diese Zerrissenheit, weder zu der einen noch zu der anderen Lebenswelt zu gehören, sei leider ein Gedanke, der sie nicht loslässt.
Seit zwei Jahren hat Sophie eine Freundin und hat mit ihrer queeren Identität ihren Frieden gemacht. Auch Sophies Kinder reagierten auf ihr Coming-out vollkommen cool und akzeptierten sie so, wie sie ist. Allerdings hören ihr Sohn und ihre Tochter manchmal blöde Sprüche in der Schule. Und in der Familie, in Freundeskreisen seien manche Kontakte schlicht abgebrochen. Dabei spielte weniger eine Rolle, dass es diskriminierendes Verhalten ihr gegenüber gegeben habe, sondern die unterschiedlichen Lebenswelten hätten einfach nicht mehr gepasst, erzählt Sophie.
Dieser Prozess des „Zu-sich-Stehens“, auch in Bezug auf Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit, sei für sie ein langer gewesen. „Es war am Anfang ganz aufregend für mich, mit meiner Freundin auf die Straße zu gehen. Ich habe immer noch Ängste, die in mir aufsteigen, aber ich fühle mich dennoch angekommen.“ Nun sei es für sie an der Zeit, ihren queeren Freundeskreis weiter zu vergrößern.
Nach Gabrieles Erfahrung kommen die Frauen in der Regel ein Jahr lang zur Gruppe und können dann meist auf eigenen Füßen stehen. Es sei unglaublich schön zu sehen, wie selbstbewusst die Frauen ihren Weg gehen würden. Aber: „Ich habe derzeit das Gefühl, dass die Gesellschaft einen Rückschritt macht beim Thema Akzeptanz von Homosexualität. Die Diskriminierungen in der Familie, am Arbeitsplatz, das ist alles noch da, es wird vielleicht sogar gerade wieder mehr.“
Coming-out als trans Mann
Trans* Personen durchlaufen oft einen noch längeren Coming-out-Prozess, weil mehr Aspekte wie Selbstbild, Gender-Fragen, Gesundheit und andere Themen mit hineinspielen. So war es auch bei Harvey, 46 Jahre alt. Er lebt seit zehn Jahren in Berlin und arbeitet in einer Kita. Harvey stammt aus Kalifornien. Mit 15 sagte er seinen Eltern, dass er bisexuell sei. „Meine Eltern haben mich sofort in Therapie geschickt, sie waren außer sich. Man muss auch sehen, dass damals in den frühen 90er-Jahren die Themen Queerness, Bisexualität oder Trans* nicht so präsent waren wie heute.“
Harvey sah sich damals als cis Frau, datete Frauen wie Männer. „Die Männer sagten mir aber, ich sei zu butchy, zu heftig. Ich habe mir das zunächst zu Herzen genommen, dachte dann aber: Fuck you, nichts an mir ist falsch.“ Bald darauf begann Harvey mehr mit trans* Freund*innen abzuhängen. „2016 gab es den absoluten Game-Changer für mich: Es wurde ein Tumor in meiner Brust entdeckt“. Die Therapie verlief zwar gut, „die Ärzte sagten mir aber, ich würde von nun an keinerlei Hormone mehr produzieren, also weder Östrogen oder Testosteron.“ In der Folge nahm er dann anderthalb Jahre weibliche Geschlechtshormone ein, merkte aber dabei, wie unzufrieden er mit seinem Zustand war. „Ich wollte nicht so weitermachen mit den Östrogenen, ich wollte eher männlich sein“, erzählt er. Harvey sprach darüber mit seinem besten Freund, der ihm unter anderem sagte: „Vielleicht fühlst du dich einfach besser mit dem Pronomen he/him.“
2019 fing Harvey dann an, Testosteron zu nehmen, wurde äußerlich maskuliner und hatte dann auch sein Coming-out als trans Mann. Harvey ging damals in eine alternative Filmschule und schrieb an einem Skript für einen campen Fantasyfilm mit dem Titel „Captain Faggatron Saves The Universe”, der sich u. a. mit internalisierter Homophobie beschäftigt und heteronormative Strukturen kritisch unter die Lupe nimmt. Der Film ist mittlerweile abgedreht und soll, wenn alles gut läuft, vom Salzgeber-Verleih vertrieben werden. „Auch die Arbeit an meinem Film hat mich zu der Erkenntnis geführt, dass ich männlich bin“, sagt Harvey. Diskriminierungen habe er selbst kaum erlebt, aber an der Filmschule begegne ihm immer noch Sexismus, auch Transfeindlichkeit, z. B. in den Skripten, die dort vorgestellt werden. Ihm sei es wichtig, in solchen Fällen auf diese Missstände hinzuweisen.
„Was ich damals von schwulem Leben erfuhr, hat nicht in mein geordnetes Leben reingepasst“
Auch bei Michael, Ende fünfzig, Journalist und Life-Coach, dauerte es sehr lang bis zu seinem Coming-out als schwuler Mann. Michael lebte lange Zeit als Hetero, hatte zwei Kinder und managte eine Agentur. Er hatte damals einige platonische Kontakte zu schwulen Männern, die er entweder durch seinen Beruf oder den Bekanntenkreis seiner Exfrau kennengelernt hatte. „Was ich damals von schwulem Leben erfuhr, hat nicht in mein geordnetes Leben reingepasst“, erzählt er. „Ich dachte, ich hatte alles in meinem Hetero-Leben.“
Dennoch sei er nicht zufrieden gewesen, spürte ein Begehren nach Männern. Seine Unzufriedenheit äußerte sich auch körperlich: „Ich hatte damals auch psychosomatische Störungen, Magenprobleme, machte eine Therapie, in der ich das Thema Schwulsein aber gar nicht ansprach.“ Im August 2006 fasste er sich ein Herz und unternahm von Leipzig aus einen Trip nach Berlin, um das schwule Leben dort kennenzulernen. „Ich wollte damals gucken, ob mir das Leben noch einen zweiten Teil schenkt, sicherlich hat mir die Therapie auch dabei geholfen, zu sagen: O.k., ich bin bisexuell und gehe jetzt mal den mutigen Schritt nach vorn. Ich sagte meiner damaligen Freundin dann, dass ich ein Jahr Pause haben will, um mich zu finden.“ Ein Wendepunkt.
„Mir war klar, dass der sexuelle Aspekt da sehr stark im Vordergrund stand. Meine Partner waren auch sehr viel jünger.“
Michael entdeckte seine schwule Identität und trennte sich nach 13 Jahren Beziehung von seiner damaligen Partnerin, was nicht einfach war. Sein „geordneteres“ Hetero-Leben sei dann von einem neuen Leben abgelöst worden, das meist aus kürzeren Beziehungen bestand. „Mir war klar, dass der sexuelle Aspekt da sehr stark im Vordergrund stand. Meine Partner waren auch sehr viel jünger.“ Mittlerweile sei er allerdings zu dem Schluss gekommen, dass er eine andere, stetigere Art von Beziehung möchte. Sein jetziger Partner ist 53. „Ich entdecke da ganz andere Qualitäten, in der schwulen Welt ist ja vieles von Äußerlichkeiten geprägt. Attraktivität ist mir auch wichtig, aber es gibt eben noch mehr.“
Umgang mit Diskriminierungserfahrungen
Michael ist in seinem neuen Leben voll angekommen, arbeitet mittlerweile auch als Life-Coach für Queers, denen er hilft, sich im Alter mit neuen Fragen auseinanderzusetzen oder Lebenskrisen zu bewältigen. Auch er selbst musste einiges lernen, um an diesen Punkt zu kommen. Vor allem den Umgang mit Diskriminierungserfahrungen. Wenn er z. B. von heterosexuellen Freunden oder Kolleginnen angesprochen wird, wie das denn so sei „bei euch Schwulen?“ Auf solche Fragen gehe er nicht ein.
Schlimmer sei für ihn aber ein anderer Vorfall gewesen: Als er mal seinen damaligen Freund in Kreuzberg auf der Straße küsste, wurden die beiden wüst beschimpft und bedroht. „Es ist zum Glück nichts passiert, ich habe dann mein Fahrrad dem Typen entgegengeschmissen.“ Allerdings habe ihn der Vorfall fast ein Jahr lang beschäftigt. Das habe auch damit zu tun gehabt, dass er als „Gay Baby“, wie er scherzhaft sagt, also als noch relativ unerfahrener homosexueller Mann, solcherlei Erlebnisse zuvor nie hatte.
„Ein Coming-out hört ja nie auf.“
Das späte Coming-out mag mit zahlreichen Problemen behaftet sein, doch nach diesem entscheidenden Schritt steht meist ein anderes, bereicherndes Leben. Den richtigen Zeitpunkt für das Coming-out müsse jede*r für sich selbst finden, sagt Sophie: „Ein Coming-out hört ja im Leben nie auf.“ Sie müsse sich immer wieder outen, wenn sie neue Menschen kennenlerne. Aber eines möchte sie Menschen mit auf den Weg geben, die sich noch vor einem Coming-out scheuen: „Man sollte sich Zeit nehmen, auf seine eigenen Gefühle zu hören, und sich fragen: was brauche ich, wie fühle ich mich, und diesen Gedanken dann auch Raum geben.“
Und Michael ergänzt: „Dieses zweite Leben, das ich jetzt führe, ist eine unglaubliche Bereicherung. Das hätte ich ja alles gar nicht kennengelernt, wenn ich mich nicht geoutet hätte. Ich denke aber, dass jeder und jede sich da selbst orientieren muss, je nachdem, in welchem Kontext man lebt. Auch wenn es blöd klingt, würde ich immer sagen: Höre auf deine innere Stimme und erspüre, was dir guttut.“
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