So queer wird der Eurovision Song Contest 2024
Anschnallen, es geht los! Endlich stehen alle 37 Acts für den Eurovision Song Contest 2024 fest. Das große Finale steigt unter dem Motto „United By Music“ am Samstag, den 11. Mai in der Malmö Arena im Süden Schwedens. Einige Teilnehmer*innen müssen aber erst die Semifinals am 7. und 9. Mai überstehen. SIEGESSÄULE verrät, auf welche queeren Acts wir uns besonders freuen
Schweiz | Nemo: „The Code“
In dem Song „The Code“ mischt der nicht binäre Act aus der Alpenrepublik Elemente aus Rap, Drum 'n' Bass und Oper zu einem irren Pop-Cocktail zusammen. Nemo sieht das als künstlerisches Manifest einer sehr persönlichen Reise: Der Song soll ein Aufruf sein, „den eigenen Code zu knacken und zu sich selbst zu finden.“ 0 und 1 – der binäre Computer-Code als Metapher für das Leben als nonbinäre Person. Das Lied entstand im offiziellen ESC-Songwriting-Camp für die Schweiz. Es wird bunt, wild und auch ein wenig anstrengend. „Der Song ist für die Bühne gemacht“, schwärmt Nemo und verspricht: „Mein Auftritt wird ein Rollercoaster-Ride.“ Nemo ist 24, lebt zum Teil in Berlin, hat hier ein Musikstudio und liebt die Offenheit der Metropole. „Hier gibt es viel Raum für Kreativität und Austausch.“ Optisch wird der Auftritt in Malmö garantiert ein absolutes Highlight. Für den Sieg ist „The Code“ aber vielleicht doch ein wenig zu komplex.
Großbritannien | Olly Alexander: „Dizzy“
Das Königreich schickt einen echten Superstar ins Rennen. Olly Alexander ist 33 Jahre alt, und hat schon mit den Pet Shop Boys, Elton John und Kylie Minogue zusammengearbeitet. Seine Karriere begann mit der Band „Years & Years“, die sich 2021 aufgelöst hat. TV-Fans kennen ihn aus der umjubelten queeren Miniserie „It’s a Sin“. In seinem Electropop-Song „Dizzy“ beschreibt er, wie rammdösig und kirre ihn die Liebe macht. Im Interview mit der Moderatoren-Legende Graham Norton verriet der „Eurovision Superfan“, dass er sich selbst bei der BBC als Act ins Gespräch gebracht hat. Geboren wurde Olly Alexander in Harrogate, dem Ort, an dem Nicole 1982 mit „Ein bisschen Frieden“ den Grand Prix d’Eurovision de la Chanson gewann. Bei seinem Auftritt setzt er auf Show und Drama. „Ich will einen bleibenden Eindruck hinterlassen, egal auf welchem Platz ich lande. Es wird mir eine Ehre sein, die Flagge Großbritanniens auf schwulste Art und Weise zu schwenken“, sagt er grinsend.
Belgien | Mustii: „Before The Party’s Over“
Schauspieler, Autor, Komponist, Sänger: Der Belgier Thomas Mustin ist ein wahres Multitalent und wurde schon im August 2023 offiziell als belgischer Vertreter bekannt gegeben. Der 33-Jährige trat bei den beiden Ausgaben von „Drag Race Belgique“ als Juror in Erscheinung. Seine Popnummer ist eine Ballade, die sich langsam steigert und schließlich von einem opulenten Background-Chor getragen wird. Für den Part konnten sich 100 Eurovision-Fans online bewerben. Ob der Track das Zeug zur Hymne hat, bleibt abzuwarten. Wahrscheinlich etwas zu brav für den ganz großen Wurf.
Irland | Bambie Thug: „Doomsday Blue“
Bambie Thug wirkt wie eine skurrile Figur aus einem Tim-Burton-Musical und ist vielleicht der ungewöhnlichste Act auf der ESC-Bühne 2024. Die*der nonbinäre Künstler*in fühlt sich im Darkwave zuhause und macht „weird witchy music.“ Bambie bezeichnet den Sound als „Ouija Pop“, eine Musik, die helfen könne, mit Geisterwesen in Kontakt zu treten. Bambie Thug hat schon viel gemacht – von Bubblegum-Pop bis Rock, doch in der Hexenwelt fühlt sie*er sich am wohlsten. In der irischen Late Late Show erzählte Bambie Thug, dass es im Song „Doomsday Blue“ um das schlimme Gefühl geht, übersehen, ignoriert und ausgegrenzt zu werden: „Als queere Person passiert dir das ständig. Besonders als queere Person mit einer Vagina.“ Die Botschaft: „Queer people do need a voice.“
Litauen | Silvester Belt: „Luktelkt“
Elektronische Beats und litauische Lyrics. Kommt das an? Im nationalen Vorentscheid „Eurovizja.LT“ setzte sich der 26-Jährige mit den Kräusellocken unter 40 Beiträgen durch. Unter anderem gegen „The Roop“, die nach 2021 und 2022 ein drittes Mal beim Contest antreten wollten. Seine größte Inspiration ist der Australier Troje Sivan, der mit den Musikvideos „Rush“ und „One of your Girls“ queere Popherzen höher schlagen lässt. Silvester Belt hat Musikperformance in London studiert und outete sich dort mit 20 als bisexuell. Er hat den Song extra für die ESC-Bühne geschrieben. „Luktelkt“ („Warte“) soll das Gefühl einfangen, in einer Matrixschleife gefangen zu sein.
Dänemark | Saba: „Sand“
Klassisches ESC-Pathos gibt es von der lesbischen Sängerin Saba mit „Sand“. Sie ist Model, Musicalsängerin und eine absolute Newcomerin im Pop-Universum. Der Sieg beim „Dansk Melodi Grand Prix“ war der erste TV-Auftritt für die gebürtige Äthiopierin. Ihre Freundin Aviaya fiel ihr nach dem Sieg überglücklich um die Arme und sagte in einem Interview: „Es ist so verrückt, sie ist eine Frau, sie ist Schwarz, und sie ist queer. Es ist so wichtig, dass sie gewonnen hat. Und sie hat so hart dafür gearbeitet.“ Ob „Sand“ es ins Finale schaffen wird, ist schwer vorauszusagen.
Australien | Electric Fields: „One Milkali“
Down Under geht dieses Jahr mit einem schwulen Duo an den Start. Sänger Zaachariaha Fielding und Keyboarder Michael Ross beschreiben sich als „two feminine brothers“ und wurden vom australischen Sender SBS direkt nominiert. Ihr Titel „One Milkali“ (One Blood) ist auf Yankunytjatjara, die Sprache verschiedener Aboriginal Peoples, der Song wird aber auf Englisch gesungen. Schon 2019 wurden sie Zweite beim australischen Vorentscheid. Ihr Sound bewegt sich zwischen Electropop und Soul, aber das queere Duo weigert sich, der Musik einen Stempel aufzudrücken. Sänger Zaachariaha Fielding beschreibt die Bühne als Ort des Friedens – als Safe Space, an dem sich das Duo frei ausdrücken kann.
San Marino | Megara: „11:11“
Der Mikrostaat unweit der italienischen Adriaküste setzt oft auf internationale Acts. Der Aufwand, den der staatliche Sender SMRTV hierfür betrieb, war immens: 700 Beiträge aus 31 Ländern wurden eingereicht, das sind mehr als in Deutschland. Im Finale trat unter anderem auch Eurodance-Diva Corona („The Rhythm Of The Night”) an, durchsetzen konnte sich allerdings eine Rockband aus Spanien: Megara fallen durch ihren pink-schwarzen Look sehr auf, der stellenweise an J-Rock und Cybergoth erinnert. Musikalisch bauen sie in ihrem Track „11:11“ Electro- und Flamenco-Klänge ein. Ob die ungewöhnliche Mischung das Publikum und die Jury überzeugen kann, wird sich zeigen. Die lesbische Frontfrau Kenzy Lovett betreibt nebenbei auch ein eigenes T-Shirt-Label – viele ihrer Shirts haben queere Motive.
Spanien | Nebulossa: „Zorra“
Neben LGBTIQ*-Sänger*innen gibt es noch weitere Acts, die aus queerer Sicht erwähnenswert sind und schon jetzt zu den erklärten Homo-Lieblingen zählen, so zum Beispiel der spanische Beitrag: „Zorra“ heißt wörtlich übersetzt Füchsin, aber der Begriff ist in der spanischen Sprache doppeldeutig: „Schlampe“ oder „Hure“ ist die gängigere Übersetzung. Das hat das spanische Publikum nicht davon abgehalten, das Electro-Duo Nebulossa mit „Zorra“ zum Sieger des Benidorm-Festivals zu küren und zum ESC nach Malmö zu schicken. Die 55-jährige Mery Bas ist bestimmt nicht die stärkste Stimme der iberischen Halbinsel, aber das macht nichts: Leicht trashiger Diven-Pop im Synthie-Sound der 80er hat Kultur in Spanien.
Diese Frau wirkt wie eine Dragqueen, die darauf pfeift, was andere von ihr denken. „Klar weiß ich, dass ich eine Schlampe bin“, singt sie verführerisch lächelnd. Um sie herum tanzen zwei Männer auf Highheels und in Latexcorsagen. Camper und queerer geht es kaum! Nicht nur die schwulen Fans im Publikum waren schockverliebt. „Zorra“ stürmte die spanischen Charts und gilt schon jetzt als inoffizielle Homo-Hymne der ESC-Saison 2024.
Der Song sorgte für Diskussionen bis ins spanische Parlament. Dort wurde öffentlich diskutiert, ob eine Frau sich freiwillig als „Schlampe“ bezeichnen sollte. Konservative Stimmen empfinden das als Herabwürdigung, und auch der Madrider Verband für Frauenrecht übte heftige Kritik: „Den Songtext als ‚feministisch‘ zu werten sei eine Beleidigung des Verstandes.“ Sogar der spanische Regierungschef Pedro Sánchez schaltete sich ein: „Solche Formen der Provokation müssen aus der Kultur kommen.“ Besser kann die PR für einen ESC-Beitrag gar nicht laufen. 11,5 Millionen Aufrufe auf Spotify lügen nicht.
Und sonst? Kirmestechno statt Balladen
Was erwartet uns noch beim ESC in Malmö? Vor allem viel Hyperpop und 90er Eurodance-Sounds. Estland, Finnland und Österreich setzen auf Kirmestechno. Mit dem niederländischen Beitrag „Europapa“ von Joost Klein (hierzulande bekannt durch den Song „Friesenjung“) feiert nun sogar das Hardcore-Techno-Genre Gabber eine kleine Premiere beim ESC. Das alles könnte für viel gute Laune sorgen – oder für heftige Kopfschmerzen.
Das viele Bumbumbum könnte aber auch eine Chance sein für große Balladen, von denen es 2024 relativ wenige gibt. Vielleicht sorgt der Franzose Slimane mit „Mon Amour“ für einen magischen Moment in einem sehr hektischen ESC-Jahrgang. Außerdem gibt es eine langersehnte Rückkehr: Nach 31 Jahren Abstinenz nimmt Luxemburg wieder am Wettbewerb teil!
Als Favorit in der ESC-Bubble und in den Wettbüros gilt der Kroate Baby Lasagna mit „Rim Tim Tagi Dim“, einem Genremix aus Trap, Industrial Metal und Techno. Moshpit-Vibes beim ESC, simpler Refrain inklusive. Im Song geht es um einen jungen Mann, der sein Dorf verlässt – das steht für Menschen, die ausgewandert sind und für die kroatische Diaspora. Ursprünglich war Baby Lasagna nur ein Reserve-Act beim kroatischen Vorentscheid, den er überraschend gewann. Vielen ESC-Fans ist die Ähnlichkeit zum finnischen Beitrag „Cha Cha Cha“ von Käärijä aufgefallen, der letztes Jahr den 2. Platz belegte. Nicht nur der Mix aus Metal und Electro, sogar die Puffärmel sind ähnlich. Die Outfits im kroatischen Beitrag seien aber nicht von Käärijä, sondern von traditioneller Kleidung inspiriert.
Warten wir den 11. Mai ab, denn so catchy die Videos vieler Teilnehmer*innen auch sein mögen: Gespielt wird auf dem Platz. Schon so manchem Favoriten und mancher Favoritin hat das Staging oder die eigene Stimme die finale Punktewertung versaut.
Deutschland: Bloß nicht auffallen!
War noch was? Ach ja, Deutschland. Der unbekannte Sänger Isaak aus Ostwestfalen konnte sich in einem recht nichtssagenden Feld beim deutschen Low-Budget-Vorentscheid durchsetzen. Der 28-jährige Familienvater und erfahrene Straßenmusiker singt die solide Rockpopnummer „Always on the Run“. Auf seinen ESC-Auftritt bereitet er sich nach eigener Aussage recht einfach vor. Nämlich gar nicht. „Ich versuche, noch nicht daran zu denken und zu chillen.“ Was dürfen wir von seinem Auftritt erwarten? Authentizität, das heißt in diesem Fall eine stabile Stimme, Kapuzenpulli und Turnschuhe. Keine ausgefeilte Performance, keine Pailetten, keine Dance-Moves. Denn auch das schickt Isaak voraus: „Ich tanze nicht.“ Leider scheint der gute Mann etwas auszublenden: Der ESC ist der größte Musikevent der Welt und nicht die Fußgängerzone von Paderborn. Hoffen wir also wenigstens auf schöne Lichteffekte ...
Der NDR wird nach dem Ergebnis am 11. Mai argumentieren, dass sowohl die internationale Jury als auch das deutsche Televoting-Publikum Isaak beim Vorentscheid die Höchstpunktzahl gab. Darin sind sich alle einig: „Singen kann er ja“. Übersetzt in ESC-Sprech heißt das: „Und sonst so?“ Eine gute Stimme allein war beim ESC noch nie ein Kriterium, Aufmerksamkeit zu erregen. Ein letzter Platz liegt für den deutschen Beitrag auch in diesem Jahr durchaus im Bereich des Denkbaren.
Stellt sich für die queere Fan-Community nur noch eine Frage: Wann tritt Kim Petras endlich für Deutschland beim ESC an? Die trans* Popikone bringt alles mit, was es für einen ESC-Banger bräuchte.
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