Shawn Mendes in Berlin: Neues Album, intime Musik, softes Coming-out
Heute erscheint das neue Album von Shawn Mendes, mit Songs, die er diese Woche live im Tempodrom vorgestellt hat. Bei der Stelle im Lied „The Mountain“, wo er singt „ihr könnt sagen, ich mag Jungs oder Mädchen“ brach das Publikum in spontanen Applaus aus. Ein Coming-out der ganz eigenen Art?
Es war der einzige Europa-Auftritt seiner Pre-Release-Tour, bei dem der Popmegastar aus Kanada die Musik seines neuen Albums „Shawn“ spielte – ausgerechnet in Berlin! Als er auf die Bühne des atmosphärisch ausgeleuchteten Tempodrom trat, flippten die Zuschauer*innen vollkommen aus. Manche hielten Schilder mit Sprüchen hoch oder riefen laut in den Raum: „We love you!“ Als Mendes das in einem Fall hörte, rief er prompt zurück: „I love you, too!“ Er verriet auch gleich zu Beginn, dass er Berlin liebe und vor allem den Deutschen Humor schätze. Was sonst kaum jemand wahrhaben will, ist für Mendes sonnenklar: „Germans are so fucking funny!“
Es ist, wie fast alle Tracks auf dem neuen Album, eine Seelenschau. Und eine Art Selbsttherapie.
Und dann schmeißt er sich auch gleich mit Gusto in die Musik und erklärt – „one, two, three“ – wer er ist: „Who I am“ heißt das erste Lied im Konzert und auf dem Album. Es ist, wie fast alle Tracks auf dem neuen Album, eine Seelenschau. Und eine Art Selbsttherapie, um zu erklärten, warum Mendes vor zwei Jahren – auf dem Höhepunkt des Ruhms – seine große Welttournee abgebrochen und sich komplett aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte: „I feel pressure from the people that I love and it hurts / but I know I gotta do it, gotta put me first / Losing myself try’na make you proud / Sorry gotta do it, gotta let you down.“
Die neue Musik klingt intim, zurückgenommen, beschränkt sich primär auf Akustik Gitarrenklänge und eine kleine Band, die neben Mendes auf der Bühne steht – im Tempodrom stehen sie auf ausgebreiteten Teppichen, als sei man zusammen im Wohnzimmer oder einem Aufnahmestudio. Unter sich beim entspannten Musizieren mit Freunden. Weswegen das Konzert „For Friends and Family“ heißt. Eine gefilmte Version wurde diese Woche auch kurz im Kino gezeigt, bei der Berliner Vorstellung tauchte Mendes sogar höchstselbst am Potsdamer Platz auf.
Öffentlich Druck zu Sexualität
Live klingt die Musik spannender als auf CD, einfach weil der Sound im Tempodrom grandios ist und Mendes zu jedem Lied etwas zu den Hintergründen der Entstehung erzählt. Es zirkulieren bereits unendliche viele Videos auf Social Media, sodass man sich die Infos auch anderswo holen kann. Ein Talk hatte dabei für enormen Wirbel gesorgt, als Mendes erklärte: „Seit ich ganz jung war hat es dieses Ding um meine Sexualität gegeben.“ Konkret: Er sei seit 15 im Musikgeschäft, deswegen hätte er viele Sachen, die andere 15-Jährige tun und ausprobieren, nicht tun können, um Aspekte über sich selbst herauszufinden. Dass seit Ewigkeiten so viel Aufheben um seine Sexualität gemacht werde, empfindet er immer noch als „blöd“. Denn: „Ich finde Sexualität ist so eine wunderbar komplexe Sache, es ist schwierig, sie in Schubladen zu stecken.“
„Ich finde Sexualität ist so eine wunderbar komplexe Sache, es ist schwierig, sie in Schubladen zu stecken.“
Wer das dennoch tue, würde sich übergriffig verhalten in Bezug auf etwas, das für ihn sehr „persönlich“ sei. Es sei etwas, das er selbst noch für sich herausfinden würde, etwas, das er noch entdecken müsse. Dass er nun so offen spreche, liege daran, dass er sich „allen“ gegenüber näher fühlen und in seiner „Wahrheit“ leben wolle. Und diese Wahrheit über sein Leben und seine Sexualität sei: „Ich versuche, so wie alle andere auch, mir klar zu werden, was ich will.“ Das fühle sich „total beängstigend“ an, denn „wir leben in einer Gesellschaft, die dazu viel zu sagen hat“.
Und dann singt er das Lied „The Mountain“, mit den Textzeilen: „You can say I’m too young / You can say I’m too old / You can say I like girls or boys / Whatever fits your mold / You can say I’m a dreamer / You can say I’m too far gone / But I’ve never been better / So call it what you want.” Im Tempodrom hörte die Band kurz vor der „boys or girls“-Stelle auf zu spielen, damit genau diese Worte wirklich klar im Raum verstanden werden konnten. Und sie wurden verstanden. Denn das Publikum brach in spontanen Riesenapplaus aus.
Besonders schön wird es, als Mendes seine beiden besten Freunde Mike Sabath und Eddie Benjamin auf die Bühne holt. Sie hätten ihm geholfen, aus dem schwarzen Loch herauszukommen, in dem er sich vor zwei Jahren befunden habe. Gemeinsam haben sie mehrere Songs geschrieben, die sie nun auch zusammen aufführen: Drei junge Männer, bei denen die Chemie stimmt. Und die gemeinsam dann auch den einzigen Song intonieren, der echte Pop-Vibes-zum-Mitsingen hat: „Why, Why, Why“. Zu wild geschlagenen Gitarrenklängen zündet diese Nummer auch auf CD (je nach Lautsprecheranlage) und war bereits als Vorabveröffentlichung der große Hit des Albums.
Introvertierte und intime Musik
Aber es sind die introvertierten Nummern wie „That’s the Dream“, „Isn’t That Enough“, „Heart of Gold“, „Nobody Knows“ sowie das völlig zurückgenommene „Hallelujah“ (nur von Harmoniumklängen begleitet), die unter die Haut gehen. Vermutlich hätte Mendes die Popkarriere, die er gemacht hat, nicht mit solchen Liedern geschafft, wenn er sie mit 15 gesungen hätte. Sich aber nun, mit 26 Jahren, zu erlauben, solche Songs zu veröffentlichen – denen er im Konzert mit seiner Multi-Million-Dollar-Bühnenpräsenz trotzdem einen ziemlichen Mainstream-Pop-Appeal verleiht – ist ein Schritt in eine neue Richtung. Vielleicht sogar ein Durchbruch zu etwas ganz Neuem?
Das Cover des neuen Albums „Shawn“ ist schwarzweiß gehalten. In der Kunstgeschichte wurden solche S/W-Bilder früher genutzt, um zu signalisieren, dass man sich in einer Phase der Trauer, Meditation oder Zurückgezogenheit befindet. Das trifft die Situation, in der Mendes – nach eigenen Bekundungen – in den letzten zwei Jahren war, ganz gut. Mit seiner neuen Musik, die eine große Nachrichtenagentur in Deutschland vorab als „wenig euphorisch“ und „langweilig“ beschrieb, wirkt er sehr authentisch. Und wenn man auf die Inhalte schaut, sind die alles andere als „langweilig“. Im Tempodrom erzählt Mendes nebenbei von seinen Experimenten mit Pilzen und empfiehlt, das auch mal zu probieren. Falls man’s tut, hört man die Musik definitiv nochmal anders, wenn die leise und oftmals zärtlich dahinschwebt.
Am Ende rockt der ganze Saal im Tempodrom. Und zumindest seine Berliner Fans waren beglückt von den 12 neuen Liedern. Wegen der besonderen Background-Geschichte dieses Album hat „Shawn“ sich jetzt schon einen bedeutenden Platz in der LGBTIQ*-Musikgeschichte gesichert.
Neues Album „Shawn“ von Shawn Mendes
Veröffentlichung: 15. November
Universal Music
shawnmendesofficial.com
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