Interview mit Monika Hauser von medica mondiale

Sexualisierte Kriegsgewalt in der Ukraine

15. Mai 2023 Muri Darida
Bild: Anna Verena Mueller
Monika Hauser, Gründerin von medica mondiale

In den von Russland besetzten Gebieten vergewaltigen Soldaten ukrainische Frauen. Monika Hauser sprach im Interview mit SIEGESSÄULE über traumasensible Trainings, Putins Sexismus und den medialen Umgang mit sexualisierter Gewalt im Krieg. Sie ist Gynäkologin, Aktivistin und Gründerin der feministischen Organisation medica mondiale

Frau Hauser, wie sieht Ihre Arbeit mit Frauen aus der Ukraine aus? Seit fast einem Jahr geben wir gemeinsam mit unserer Partnerorganisation WAVE (Women against Violence Europe) Online-Trainings für Beratungsstellen, um vergewaltigte Frauen und Mädchen in der Ukraine traumasensibel zu unterstützen. Es gibt Tage, an denen Warnsirenen zu hören sind und die Frauen während der Fortbildungen nach unten in den Schutzbunker rennen müssen. Nach einer halben Stunde kommen sie wieder hoch und schalten sich dazu.

Wie ist die Lage für Frauen und andere marginalisierte Geschlechter? Mittlerweile ist gut dokumentiert, dass es in dem vom russischen Militär besetzten Gebiet massive sexualisierte Gewalt gab. Wir wissen, dass Menschen, hauptsächlich Frauen, in Kellern festgehalten wurden, um vergewaltigt zu werden. Putin selbst hat die Verbrecher – regierungstreue Russ*innen nennen diese Männer „Helden“ – von Butscha geehrt. Das Militär hat in Butscha hunderte Zivilist*innen getötet und es ist bekannt, dass viele Frauen und Mädchen sexualisierte Gewalt und Vergewaltigungen durch Soldaten erlebt haben. Die Täter zu ehren, ist ein klarer Code. Übersetzt heißt das: Wenn ihr tut, was diese Männer in Butscha gemacht haben, seid ihr Helden.

„Die russische Regierung dämonisiert Ukrainer*innen als Nazis und rechtfertigt so die Gewalt.“

Welche Rolle spielt die russische Regierung? Die russische Regierung dämonisiert Ukrainer*innen als Nazis und rechtfertigt so die Gewalt. Bereits vor dem Angriffskrieg hat Putin eine extrem sexistische Sprache bedient. Im Februar 2022 hat er im Gespräch mit Emmanuel Macron die Liedzeile „Ob es dir gefällt oder nicht, du wirst dich fügen müssen, meine Schöne!“ zitiert. Mit der „Schönen“ war die Ukraine gemeint. Das ist ein eindeutiges Symbol. Auch in der ukrainischen Gesellschaft ist die Gewalt gestiegen. Es gibt viel Alltagssexismus.

Woran liegt das? Das Phänomen sehen wir immer, wenn Anspannung und Angst steigen. Sexualisierte Gewalt ist in allen Gesellschaften als Grundsymptom angelegt, wird aber durch normative Strukturen mehr oder weniger eingedämmt – je nach gesellschaftlichem Kontext. In Konfliktsituationen bricht das auf. Es gibt mehr Fälle von häuslicher Gewalt. In der Ukraine gab es Übergriffe gegen Frauen und Mädchen in den Schutzbunkern. Wir hören, dass queere Menschen gezielt angegriffen werden. Trans Frauen können oft immer noch das Land nicht verlassen und sind in Gefahr. Gleichzeitig gibt es eine sehr lebendige und mutige Zivilgesellschaft in der Ukraine. Aktivist*innen, die aufklären.

Wie unterstützt medica mondiale betroffene Personen konkret? In unseren Trainings vermitteln wir Methoden und schaffen Raum für Austausch: Wie kann man Frauen und Mädchen nach Vergewaltigungen unterstützen, ohne sie erneut zu traumatisieren? Wie lässt sich Stabilität herstellen und wie können sich Unterstützer*innen selbst in dieser traumatischen Arbeit stärken? Denn sehr häufig haben auch die Helfer*innen Gewalt erfahren. Selbst in Deutschland gilt das für jede dritte Frau. In der Ukraine kommt hinzu, dass die Mitarbeiterinnen konstant in einer traumatisierenden Sicherheitslage arbeiten.

„Sexualisierte Gewalt gilt nach wie vor als etwas Spektakuläres. Sie ist aber keine Ausnahme, sondern strukturell.“

Wie arbeitet medica mondiale außerhalb der Ukraine? Ich habe medica mondiale vor 30 Jahren anlässlich der Vergewaltigungen von Frauen in Bosnien gegründet. Seitdem haben wir in Bosnien und Herzegowina, Liberia, Afghanistan und im Kosovo eigenständige Organisationen aufgebaut und arbeiten eng mit 38 Partnerorganisationen in Südosteuropa, Westafrika, Afghanistan, dem Nord-Irak sowie in der Region der Großen Seen in Afrika zusammen. Wir setzen uns mit medica mondiale für eine feministische Außenpolitik ein und haben dafür acht Prinzipien aufgestellt. Zum Beispiel fordern wir einen machtkritischen und intersektionalen Ansatz und zentrieren die Bedarfe von Betroffenen. Das heißt: Zugang zu langfristiger und ganzheitlicher Unterstützung für Überlebende von sexualisierter Gewalt in Form von medizinischer Versorgung, psychosozialer Beratung, existenzsichernden Maßnahmen und Rechtsberatung.

Hat sich aus Ihrer Perspektive etwas am Umgang mit sexualisierter Gewalt verändert? Ich beobachte eine positive Veränderung in den vergangenen 30 Jahren. Damals haben wir Feminist*innen uns noch gegen menschenfeindliche Begriffe wie „Kollateralschaden“ gewehrt. Heute ist die Berichterstattung nicht mehr ausschließlich sensationsheischend. Trotzdem gilt sexualisierte Gewalt nach wie vor als etwas Spektakuläres. Sie ist aber keine Ausnahme, sondern strukturell. Das falsche Verständnis hat sich etwa im medialen Umgang mit den Verbrechen der Terrormiliz Boko Haram und dem IS gezeigt.

Zum Beispiel? Nach wie vor ist oft von „Sexverbrechen“ die Rede. Dabei geht es um sexuelle Ausbeutung und schwere Traumatisierung. Täterbegriffe wie „Sexsklavin“ sind selbstverständlich generell abzulehnen. Bei medica mondiale sprechen wir nicht über „Opfer“, sondern verwenden den Begriff „Überlebende“. Ich halte es auch für verkürzt, sexualisierte Gewalt ausschließlich als Kriegsstrategie oder -waffe zu verstehen. Denn sie ist in allen Gesellschaften tief verankert. Es gibt sexualisierte Gewalt im Krieg, weil es sexualisierte Gewalt im Frieden gibt.

„Es gibt sexualisierte Gewalt im Krieg, weil es sexualisierte Gewalt im Frieden gibt.“

Was heißt das? Sexualisierte Gewalt braucht im Kriegskontext keinen Befehl, um zu geschehen. Niemand sagt: Ihr müsst vergewaltigen. Aber die Führungsebene toleriert, dass es passiert. Das heißt, dass die Gewalt als Kontinuum zu betrachten ist. Wir sehen das in verschiedenen Kontexten: Schon vor einem Krieg vergewaltigen Männer gehäuft Frauen von der sogenannten gegnerischen Seite. Sexualisierte Gewalt ist also wie ein Frühwarnindikator. Sie hört auch nicht mit dem Kriegsende auf. Es passiert häufig, dass die mafiösen Strukturen, die während des Krieges Vergewaltigungen organisiert haben, auch danach noch Frauen festhalten. Etwa in Bordellen, die dann auch von UN- oder NATO-Kräften frequentiert werden, wie wir es zum Beispiel im Nachkriegskontext auf dem Balkan erlebt haben.

Was kann man von Deutschland aus tun, um Betroffene zu unterstützen? Auch hier erlebt jede zweite bis dritte Frau sexualisierte Gewalt. Ein Großteil davon findet im häuslichen Kontext statt. Wir können im eigenen Familien- und Gesellschaftskontext aufmerksam und bewusst sein. Dazwischen gehen, wenn jemand sexistische Sprüche macht. Das erfordert Zivilcourage. Es ist nicht einfach, sich zu wehren. Deshalb ist es so wichtig, sich zu verbünden und zu vernetzen. Indem man sich in bestehende Strukturen einbringt oder etwas Eigenes gründet. Versucht, Zusammenhänge aufzuzeigen, andere aufmerksam zu machen, laut zu sein.

Und im Kontakt mit geflüchteten Personen? In Deutschland leben viele Geflüchtete aus verschiedenen Kontexten. Viele haben keine Chancen auf einen Arbeitsplatz oder auch nur einen Sprach- oder Integrationskurs. Sie brauchen Unterstützung bei der Kinderbetreuung oder beim Organisieren von Möbeln. Es ist ein Armutszeugnis, wie wir in Deutschland mit Menschen umgehen, die hierher geflüchtet sind.

medicamondiale.org

Folge uns auf Instagram

#Krieg#Misogynie#Ukraine#Kriegsgewalt#sexualisierte Gewalt#medica mondiale#Anti-Gewalt#Gewalt an Frauen#sexueller Missbrauch

Das Siegessäule Logo
Das Branchenbuch mit Haltung
Queer. Divers. Überzeugend.