Reportage

Sehnsucht nach Disco: So wichtig ist die Berliner Clubkultur

15. März 2021 Jeff Mannes
Bild: Jackie Baier

Im März 2021 ist es ein Jahr her, dass in den Berliner Clubs die letzten Partys stattfanden. Seitdem herrscht coronabedingte Stille auf den Dancefloors der Hauptstadt. Ein besonders für queere Menschen unerträglicher Zustand, schlossen mit den Clubs doch nicht nur Orte der Zerstreuung, sondern dringend benötigte Schutzräume und Knotenpunkte (queerer) Kulturproduktion. Und eine Wiedereröffnung ist nach wie vor nicht absehbar. SIEGESSÄULE geht der Feierkultur Berlins und ihrer gesellschaftspolitischen Relevanz auf den Grund

Clubs bedeuten für mich Freiheit, soziales Leben, gesellschaftlichen Impact, Menschlichkeit, Solidarität, Sexualität, Hedonismus, Freundschaft, Selbsterfahrung und Selbstentfaltung”, erklärt die queere DJ Ipek Ipekçioglu. „Das steht im Gegensatz zu den Livestreams, die wir momentan gezwungenermaßen erleben, wo es diesen direkten Kontakt zu den Menschen nicht gibt.” Queere Clubs ermöglichen für sie, die homo- und transfeindliche Welt für eine Nacht hinter sich lassen zu können. „Du kannst dich darauf verlassen, dass du dort einen queerfreundlichen Ort vorfindest, an dem du sein kannst, wie du möchtest.”

Clubs seien deswegen ein Ort des dringend benötigten Empowerments queerer Menschen, betont Ipek. „Wenn ich mit anderen Menschen zusammenkomme, die so sind wie ich, die ähnliche Erfahrungen machen wie ich, zum Beispiel wenn ich mit anderen BIPoC-LGBTQI*s auf der ,Gayhane‘ zusammenkomme, dann fühlt mensch sich weniger ,falsch‘, weniger allein und isoliert. Das gibt einem ein Gefühl der Hoffnung und Stärke.” Die „Gayhane“ im SO36 ist heute ein Beispiel dafür, dass Schutzräume nicht nur für queere Menschen allgemein wichtig sind, sondern speziell auch für jene, die unter Mehrfachdiskriminierungen leiden, wie zum Beispiel aufgrund der sexuellen Identität und des Migrationshintergrunds.

Bild: Sally B.

Safer Spaces vom Kaiserreich bis ins neue Jahrtausend

Die Ursprünge queerer Clubs in Deutschland reichen weit in das 19. Jahrhundert zurück. Nachdem sich ausgehend von den Arbeiten des schwulen Juristen Karl Heinrich Ulrichs in der Mitte des Jahrhunderts eine „homosexuelle Identität“ auszubilden begann, entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Berlin die ersten Lokalitäten für schwule und bisexuelle Männer. 1872 führte das deutsche Kaiserreich den Paragrafen 175 ein, der männliche Homosexualität unter Strafe stellte. In Berlin entschloss sich das „Homosexuellen-Dezernat“ der Polizei dazu, diese Lokalitäten stillschweigend zu tolerieren. Dies vor allem deshalb, weil es so möglich war, diese Männer (und nach heutigem Verständnis auch einige trans Frauen und nicht binäre Menschen) an einigen wenigen Orten konzentriert zu kontrollieren.

Zahlreiche Schwule zog es deswegen bereits vor 1900 aus dem gesamten Kaiserreich nach Berlin. Bis 1933 galt die Stadt dann als Hochburg der queeren Kultur in Europa. Bis zu 80 Lokale für lesbische und bisexuelle Frauen sowie bis zu 120 für schwule und bisexuelle Männer soll es laut Schätzungen in den 1920ern hier gegeben haben. International berühmt war vor allem das Eldorado in der Motzstraße, das mit seiner Vielfalt geschlechtlicher und sexueller Identitäten Menschen aus der ganzen Welt anzog.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr die queere Bewegung in der Bundesrepublik dann erst wieder in den 70ern einen starken Aufwind, als der von den Nationalsozialisten verschärfte Paragraf 175 wieder entschärft worden war. Im Rahmen der Homosexuellen Aktion Westberlin (HAW) entstand der heute älteste queere Club der Hauptstadt: das Schwulenzentrum oder kurz: SchwuZ.

Bild: Sally B.

Keimzellen queerer Emanzipation

„Das SchwuZ entstand als Aktionszentrum der damaligen Schwulenbewegung“, erzählt LCavaliero Mann, künstlerischer Leiter des SchwuZ. „In dem ehrenamtlich und aus sich selbst heraus organisierten Projekt wurde nicht nur gefeiert und sich kreativ und künstlerisch entfaltet, sondern es wurden auch Aktionen und Demos geplant. Es war nicht zuletzt auch ein Schutzraum, in dem Schwule unter sich sein konnten.“ Mit der Aids-Krise in den 80ern gab es dann einen traumatischen Rückschlag für die Bewegung. „Auch viele Tunten und Schwule aus dem SchwuZ sind in dieser Zeit an den Auswirkungen von Aids gestorben”, fährt LCavaliero fort.

„Neben dem Aktivismus gegen Stigmatisierung, für eine bessere Gesundheitsversorgung und gegen die Drohungen aus der Politik, Schwule in Lager zu sperren, um die Gesellschaft vor ihnen zu ,schützen‘, wurde nun auch ganz viel Pflegearbeit für die Erkrankten geleistet. Heutige queere Insitutionen wie die SIEGESSÄULE oder der Buchladen Eisenherz sind in den 70ern und 80ern aus dieser Bewegung mit oder sogar aus dem SchwuZ und dem damaligen Bedürfnis nach Aktivismus heraus entstanden”, erzählt LCavaliero.

„Hier kann ich atmen. Hier kann ich frei sein.”

Diese politische Ausrichtung wurde mit dem Umzug nach Neukölln wieder verstärkt in den Fokus gerückt, zum Beispiel im Kontext des Themas Flucht. „Uns war es wichtig, das SchwuZ auch zu einem Ort für queere Migrant*innen zu machen und dem rassistischen medialen Diskurs, alle Geflüchteten seien homophob, etwas entgegenzusetzen.“ Gleichzeitig wurde der Club immer mehr zu einem Ort, der für alle Menschen des LGBTI*-Spektrums ein Feier- und Communityort sein möchte und nicht mehr primär nur für schwule cis Männer. „Den größten Raum im SchwuZ nennen wir deswegen auch Kathedrale, nicht nur weil er diesen Eindruck erweckt, sondern weil man wegen dieser Größe auch das Gefühl hat, dass man hier mal aufatmen kann. Das ist ein schönes Gefühl, das im Kontrast steht zu dem, was man oft in der heteronormativen Welt erlebt, wo man sich eher klein machen und verstecken muss. Es verdeutlicht: Hier kann ich atmen. Hier kann ich frei sein.”

Bild: Victor Hensel Coe

Clubs als Orte queerer Kulturproduktion

Im SchwuZ hatte auch der Künstler und Berliner Subkulturexperte Wolfgang Müller seine ersten Proben mit der Tödlichen Doris, einer Kunst- und Musikgruppe, die er 1980 mit Nikolaus Utermöhlen gegründet hatte. „Ich war zwar auch in der Kunstakademie, aber ich glaube, dass sich in der entspannten Atmosphäre von Orten wie Clubs, Bars und Discos Kunst viel mehr entwickelt.“ Wolfgang ist deswegen auch der Ansicht, dass eine Förderung dieser Orte durch den Staat die richtige Entscheidung ist. „In diesem offenen Raum wird aus einer wortwörtlichen Schnapsidee Realität.“

Die Tödliche Doris avancierte im Zuge von Punk, New Wave und der Neuen Deutschen Welle in den 1980ern vor allem in Kunst- und Avantgardekreisen zu einer bekannten Gruppe, die nicht nur in Berlin, sondern auch in Tokio, Warschau und New York auftrat. „Einmal ging ich die Oranienstraße in Kreuzberg entlang und sah plötzlich auf einem Plakat, dass ich angeblich im SO36 auftreten würde. Nur gefragt worden war ich vorher nicht. Dem hatte unser Labelchef in Hamburg einfach zugesagt“, erzählt Wolfgang. „Ohne Rücksprache. Wir konnten aber an diesem Tag gar nicht. Kurzum habe ich dann einfach drei fremde Leute angesprochen und sie gefragt, ob sie als Tödliche Doris im SO36 auftreten wollen.” Eine dieser fremden Personen war ein Punk, der Wolfgang einmal auf der Bühne mit Dosen beworfen hatte. Beide hatten sich zunächst nicht erkannt. „Und wer war dieser Punk? Ja, er hieß Matthias Roeingh, der später als Dr. Motte Mitbegründer der Love Parade wurde. Und dann stand der spätere Dr. Motte mit zwei weiteren fremden Leuten im SO36 auf der Bühne und war Die Tödliche Doris in Fremdverkörperung.”

Bild: J. Jackie Baier

Dass Clubs generell Orte (queerer) Kulturproduktion sind, sieht auch Heiko Zwirner so. Der Journalist kam 1996 nach Berlin und arbeitete hier zuerst als Nightlife-Redakteur. Gemeinsam mit anderen gab Heiko 2013 das Buch „Nachtleben Berlin – 1974 bis heute“ heraus. „Das Nachtleben ist ein Katalysator für kulturelle Strömungen, und die queere Community hat dabei immer wieder neue Impulse gegeben, die später vom Mainstream aufgenommen wurden.“

Deshalb hätten die Clubs für die Stadt eine weitreichende kulturelle Bedeutung. Ein paar Beispiele für solche Impulse seien Musikstile wie Disco, Hi-NRG und House, aus denen später Techno hervorging. Aber auch Gender-Bending als Kleidungsstil oder bestimmte Underground-Dresscodes und -Accessoires (z. B. Leder, Netzhemden, Combat Boots) wurden später von einem Millionenpublikum aufgenommen. Auch der CSD stand laut Heiko Zwirner eindeutig Pate für die Loveparade als Mischung aus fröhlichem Umzug und Demonstration eines neuen Selbstbewusstseins.

Heiko betont außerdem, dass in Clubs Menschen unterschiedlicher Backgrounds und kultureller Disziplinen, wie bildender Kunst, Film, Musik, Architektur u. s. w. zusammenkommen. „Durch den Kontakt dieser Disziplinen entsteht etwas Neues. Die Clubs werden damit zu Durchlauferhitzern kultureller und künstlerischer Produktion. Deswegen ist die Situation heute mit der bereits einjährigen Schließung der Clubs für die Stadt auch so traurig.” Doch wann wurden aus Berliner Tanzlokalen und Discos eigentlich die Clubs als interdisziplinäre Kulturorte, wie wir sie heute kennen?

Die Geburt der modernen Clubkultur

„1974 hat meiner Meinung nach eine neue Ära angefangen“, erklärt Heiko weiter im Gespräch. Es ist das Jahr, in dem das legendäre Chez Romy Haag in der Fuggerstraße – mitten im Viertel der Sexarbeiter*innen und Schwulen – eröffnete. Heute befindet sich in den Räumen die schwule Diskothek Connection. Damals aber war das Chez Romy Haag einer der ersten Läden in der Westberliner Nachkriegszeit, in denen Drag-Shows stattfanden. „Als die Eröffnung bevorstand, rümpften alle die Nase”, schreibt Romy Haag in Heikos Buch „Nachtleben Berlin“. „Die Gegend sei unmöglich, und niemand würde dort hingehen.“

„Romy Haag hat die Berliner Nacht zum Leuchten gebracht”

Doch am Abend der Premiere, am 29.11.1974, füllte sich der Laden rasch. Die erste Show wurde mit tosendem Applaus belohnt. In den folgenden Wochen standen die Menschen bis in die angrenzende Lietzenburger Straße Schlange, um in den Club zu kommen. „Das Chez Romy Haag war eine Nachtclub-Revolution!“ Ganz bewusst wurde der Eintrittspreis niedrig gehalten, damit auch weniger gut verdienende Menschen den Club besuchen konnten. Sexarbeiter*innen, trans* Personen, Lesben und Schwule zählten zu den Stammkund*innen. Romy Haag, die als eine der berühmtesten trans Frauen Deutschlands gilt, verhalf dem Club zu einem derartigen Erfolg, dass sogar internationale Größen wie David Bowie, Freddie Mercury, die Rolling Stones, Tina Turner oder Bette Midler den Club besuchten. Kurz nach der Eröffnung machten in der Gegend die ersten Schwulenclubs sowie die berühmte Disco Metropol auf. „Romy Haag hat die Berliner Nacht zum Leuchten gebracht”, betont Heiko Zwirner.

In den späten 70ern entstanden dann, befeuert durch Disco, u. a. auch in Deutschland die ersten Versuche hin zu einer neuen Form von Musik, die in den 90ern als Techno zu großer Popularität gelangen sollte. Das Metropol am Nollendorfplatz war ab 1977 der wichtigste Vorläufer der Techno- und House-Clubs der Stadt. „Es war der erste Club, wo die ganze Nacht ein durchgängiger Beat gespielt wurde. Es gab eine Energie, die man sonst nirgendwo, in keinem anderen Club in Deutschland fand“, erklärt Heiko.

Bild: J. Jackie Baier
„Ohne die Schwulenbewegung hätte es Techno in dieser Form in Berlin nicht gegeben."

Im Metropol feierte ein vorrangig queeres Publikum. „Ohne die Schwulenbewegung hätte es Techno in dieser Form in Berlin nicht gegeben. Beim Tanzen ging um eine gemeinsame Erfahrung der Entgrenzung, um ein Gemeinschaftsgefühl. Im Beat waren alle eins. Dieses Gefühl ist nach der Wende, nach dem Fall der Mauer, dann in ganz Berlin explodiert. Die Musik, die dieses Gefühl transportierte, hat sich als erstaunlich langlebig erwiesen und Phasen der Kommerzialisierung und der Stagnation überstanden. In den Berliner Clubs ist bis heute Techno der vorherrschende Musikstil“, betont Heiko. Die Clubkultur, wie wir sie heute kennen, wurde in der Zeit des Metropol geboren. Der Rest ist Geschichte. Nach legendären Läden wie Planet oder E-Werk eröffnete 1998 der schwul geführte Berliner Technoclub Ostgut, der nach seiner Schließung Anfang 2003 im Dezember 2004 mit dem Berghain seine legendäre Fortsetzung fand.

Wirtschaftsfaktor Nightlife in der Krise

Mittlerweile kommen jedes Jahr Millionen von Tourist*innen nur der Clubkultur wegen nach Berlin. Der Tourismus allgemein hat vor Corona rund 10 Milliarden Euro im Jahr nach Berlin gebracht. „Allein der Club-Tourismus erwirtschaftete 2017 1,48 Milliarden Euro für die Stadt”, betont DJ Ipek. „Das ist ein nicht zu unterschätzender Betrag. Und deshalb dürfen weder Deutschland noch das Land Berlin dies jetzt in der Pandemie und im Lockdown ignorieren. Politiker*innen wie Kultursenator Klaus Lederer, Kulturstaatsministerin Monika Grütters oder Wirtschaftssenatorin Ramona Pop versuchen natürlich, etwas zu unternehmen, aber die Hilfen reichen für viele nicht. Welche Clubs werden das überleben?”

Ein Niedergang des vielfältigen Nachtlebens der Hauptstadt wäre vor allem für queere Personen eine Katastrophe, denn Clubs sind für LGBTI* so viel mehr als reine Zerstreuung. Sie haben für Ipek, ebenso wie für viele andere von uns, eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. „Sie sind eine Möglichkeit, aus dem heteronormativen Alltag auszubrechen und in eine Welt einzutauchen, in der ich mich sicher fühle und Gleichgesinnte finde. Eine Welt, in der ich die sein kann, die ich bin.”

Bild: Victor Hensel-Coe

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