Karsten Schubert im Interview

Schwuler Sex in Corona-Zeiten: „Verbotspolitik ist nicht hilfreich“

29. Apr. 2020 Daniel Sander
Karsten Schubert

Der Politikwissenschaftler und Philosoph Karsten Schubert forscht zu den Auswirkungen, die Gesundheitspolitik auf queere Sexualität hat. Mit SIEGESSÄULE sprach Karsten darüber, was die Corona-Krise für Szene und Sex bedeutet

Kann man in Zeiten von Social Distancing noch guten Gewissens ein Sexdate haben? Mit dem Gewissen ist das so eine Sache, denn es ist ambivalent. Es umfasst einerseits verantwortungsvolles Handeln, andererseits aber die Internalisierung von gesellschaftlichen Normen. Aus epidemiologischer Perspektive ist klar, dass Social Distancing hilft, und das betrifft auch den Umgang mit Sexualität. Doch unser Alltag ist gerade voll von Übertretungen dessen, was aus medizinischer Sicht vernünftig wäre. Die werden aber je nach Lebensbereich völlig anders bewertet. Schwule Sexualität ist ein Feld, in dem Menschen wesentlich leichter ein schlechtes Gewissen haben, als wenn sie zum Beispiel ohne Mundschutz in einer vollen U-Bahn fahren.

Warum ist das so? Weil schwuler Sex wesentlich mehr mit Scham besetzt ist – von der Heteronomativität abweichende Sexualität ist immer noch negativ stigmatisiert. Insofern ist die Antwort auf die Frage nach dem schlechten Gewissen: Jein. Es ist selbstverständlich gut, nicht verantwortungslos zu handeln. Aber man braucht wegen sexueller Übertretungen der Corona-Vernunft kein schlechteres Gewissen zu haben als wegen aller anderen.

„Bezüglich Corona sollten wir schon jetzt aus der HIV-Präventionsarbeit lernen und auf einen destigmatisierenden Ansatz hinarbeiten.“

Aber ist es nicht besser, einfach mal für eine Weile auf Sex zu verzichten? Das machen ja offenbar auch die allermeisten. Wenn ich mich in meinem Bekanntenkreis umhöre, habe ich den Eindruck, dass sich gerade sehr wenige Schwule zum Sex treffen. Insgesamt gibt es da eine große Disziplin. Und das ist aus epidemiologischer Perspektive auch gut. Aus queerpolitischer Sicht ist es gleichzeitig gut, nicht diejenigen zu verurteilen, die sich trotzdem noch zum Sex treffen.

Lauern jetzt überall Moralwächter? Ich sehe gerade einen insgesamt entspannteren Umgang als noch vor einem Monat. Als es losging mit den Kontaktverboten, habe ich beobachtet, dass die oft sogar strenger interpretiert wurden als epidemiologisch empfohlen. In dieser Zeit gab es auch übergriffiges Moralisieren und gegenseitige Disziplinierung, sowohl online als auch offline. Doch dieses Verhalten sieht man im Alltag jetzt weniger. Den medialen Diskurs erlebe ich gerade als relativ ausgeglichen. Einerseits gibt es eine Debatte darüber, welche Maßnahmen gelockert werden sollen. Andererseits gibt es Stimmen, die fordern, es mit den Lockerungen nicht zu übertreiben. Das ist eine politische Öffentlichkeit, wie man sich das demokratietheoretisch wünscht.

Mit HIV hat schon einmal ein Virus unser Verhältnis zu Sexualität grundlegend verändert. Was für Lehren können wir dazu in Bezug auf Corona ziehen?
Sicherlich, dass eine repressive Verbotspolitik nicht hilfreich ist. Besser funktioniert es, Informationen über die medizinischen Hintergründe zur Verfügung zu stellen, um individuelles Risiko-Management zu ermöglichen.

Wie meinst du das? Am Anfang der HIV-Ära gab es eine klare Handlungsanweisung, immer ein Kondom zu benutzen, denn es gab kein anderes wirksames Mittel. Zweifellos war es deshalb eine richtige Entscheidung, dieses Mittel rabiat zu empfehlen. Eine Nebenwirkung davon war jedoch eine moralische Stigmatisierung von Sex ohne Kondom, die noch heute schwer aus den Köpfen zu bekommen ist – obwohl es längst gleichwertige Präventionsmethoden gibt, etwa die PrEP. Mittlerweile konzentriert sich die HIV-Präventionsarbeit vor allem auf Stigma-Reduzierung. Bezüglich Corona sollten wir schon jetzt davon lernen und auf einen destigmatisierenden Ansatz hinarbeiten.

Wird sich die queere Szene nachhaltig verändern? Können oder wollen die Menschen nach der Corona-Krise wieder unbeschwert in den Club, den Darkroom oder die Sauna laufen? Die Frage ist vielmehr, ob es diese Orte dann noch gibt. Die jetzigen Social-Distancing-Regeln werden wieder verschwinden. Wir wissen zwar nicht, wie lange das gehen wird, aber natürlich werden wir uns wieder die Hände schütteln und wieder sehr engen Körperkontakt haben wollen. Die Epidemie hat aber mannigfaltige Auswirkungen politischer und ökonomischer Art, die Gastronomie und Clubs ganz besonders gefährden – und damit die Lebensadern queeren urbanen Lebens.

Die queeren Orte waren ja schon vorher in Gefahr, jetzt wurden sie auf einen Schlag stillgelegt. Was bedeutet es für die Szene, wenn sie nicht zurückkommen? Erst einmal ist das alles sehr bedrohlich. Es gibt ein pessimistisches Szenario: Viele Clubs und Bars werden sterben und wegen der Gentrifizierung entstehen dann Büros oder teurer Wohnraum. Das optimistischere Szenario im Falle einer Pleitewelle: Neue Orte können aufmachen, weil es auf einmal viel günstigen Raum dafür gibt. Wenn die Ökonomie am Boden liegt, sind die Immobilienbetreiber*innen froh, wenn sie ihre Objekte irgendwie verwerten können. Und das könnte Freiräume für das queere Leben schaffen, das sich ja oft im Liegengebliebenen des Kapitalismus entwickelt. Es könnte ein bisschen werden wie im Berlin der Neunziger Jahre. Dafür müssen jedoch die politischen Voraussetzungen geschaffen werden.

Und wie? Wenn eine queerfreundliche Politik nicht nur Lippenbekenntnis sein soll, dann müssen die entsprechenden ökonomischen und städteplanerischen Bedingungen geschaffen werden. Durch Förderungen, Steuersenkungen und Soforthilfen. An die Politik muss aus der Szene ein deutliches Signal gesetzt werden: Für queeres Leben sind Clubs und Bars systemrelevant.

Da wir zumindest vorübergehend ohne auskommen müssen: Wie bleiben wir eine Community, wenn wir uns offiziell gerade von einander fernhalten sollen? In dem wir uns trotz Social Distancing nicht komplett ins Private zurückziehen – das passiert aber gerade viel. Eigentlich ist doch die queerpolitische Vision, dass wir eine Gemeinschaft schaffen, die außerhalb traditioneller Familienstrukturen funktioniert. Sich jetzt in klassisch private Strukturen - die Beziehung und die engsten Freunde - zurückzuziehen, wird dem nicht gerecht. Es ist eine Frage der Solidarität, das Leben, das vorher an den Community-Orten stattfand, nicht einfach abzubrechen, sondern in die neue Situation zu übertragen. Das ist auch wichtig, weil wir wissen, dass Einsamkeit in der queeren Community ein großes Problem ist. Die Entscheidung, wie sehr man sich bei Corona zurückzieht, ist deshalb keine rein private. Ich habe den Eindruck, dass die queere Community hier hinter ihre eigenen Maßstäbe zurückgefallen ist.

Eine Gemeinschaft sein ist ja auch nicht so leicht, wenn man sich nicht treffen darf. Darf man doch. Es war die ganze Zeit erlaubt, zu zweit im Park spazieren zu gehen und mit 1,5-Meter Abstand ein Bier zu trinken. So kann man sich jeweils einzeln mit einem insgesamt großen Freundeskreis treffen. Ich hoffe aber, dass sich dieses Problem mit der Entspannung der epidemiologischen Lage auflöst.

karstenschubert.net

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