Schwule Mangas – von Hetero-Frauen für Hetero-Frauen?
Lange galten die Genres „Boys Love“ und „Yaoi“ als schwule Pornos und schwule Liebesgeschichten von Hetero-Frauen für Hetero-Frauen. Diese Sicht wird dem queeren Potenzial und der Komplexität des Phänomens aber nicht gerecht. Eine Annäherung von SIEGESSÄULE-Autorin Antonia Böker
Ein junger Mann, von dessen entblößter Brust Sperma tropft. Ein anderer, der von dicken Tentakeln penetriert wird, sein Gesicht verzogen, vor Schmerz oder vor Lust. Und immer wieder ein anderer Mann, der sie hält, auf sie herabblickt. Es sind typische Yaoi-Szenen. Yaoi ist ein Genre von Manga über Beziehungen zwischen jungen Männern. Nicht alle sind so grafisch. Unter der Bezeichnung Boys Love (BL) werden verschiedenste Manga und Fanart veröffentlicht. Manche von ihnen arbeiten mit Subtext, andere sind sexuell explizit und kinky. Sie alle erfreuen sich seit Jahrzehnten wachsender Beliebtheit.
Tatsächlich ist Boys Love bis heute ein von Frauen, als Autorinnen und Leserinnen, dominiertes Feld.
Während traditionelle Verlage sich mit queeren Geschichten noch immer schwertun, gibt es hier einen riesigen Markt, mit unzähligen Titeln, auch in Deutschland. Leser*innen organisieren Conventions in jeder größeren Stadt oder vernetzen sich in Online-Communitys. Warum also sind BL Manga nicht längst in der Community angekommen? Vielleicht ist es der Ruf, der ihnen anhaftet. Das Genre galt lange als Literatur von Hetero-Frauen für Hetero-Frauen. Tatsächlich ist Boys Love bis heute ein von Frauen, als Autorinnen und Leserinnen, dominiertes Feld. Das dürfte ein Grund sein, warum das Genre als Nischeninteresse gilt. Als Ausdruck weiblicher Sexualität wird das Genre mit einem gewissen Unbehagen behandelt. Das spiegelt auch die Eigenbezeichnung wider, die sich Fans gegeben haben: „Fujoshi“, zu Deutsch verdorbene Mädchen.
Aber warum sind es gerade junge, schwule Männer, die hier gefesselt, dominiert und penetriert werden? Deren Darstellung im Genre ist nicht unkontrovers: Schon 1992 bezichtigte der Aktivist Sato Masaki das Genre der kulturellen Aneignung und Fetischisierung. Yaoi sei voll unrealistischer Körperideale und heteronormative Sexualität werde auf schwule Beziehungen projiziert. Ganz ist das nicht von der Hand zu weisen: Typisch ist eine Beziehung zwischen einem jüngeren, stärker feminisierten Uke, immer der Bottom, und einem älteren, dominierenden Seme, der immer toppt.
Ein Mann, der gefesselt und penetriert wird, so die Idee, hat die Wahl, sich zu unterwerfen.
Forscher*innen, Autor*innen und Leser*innen argumentieren, dass BL überhaupt nicht den Anspruch erhebt, schwules Leben zu repräsentieren. Sie bezweifeln gänzlich, dass die Charaktere überhaupt schwule Männer sind. Stattdessen seien sie Avatare für weibliches Begehren in einer Fantasiewelt, die frei von patriarchalen Machtstrukturen ist. Der männliche Körper steht für eine Macht, die genuin selbstbestimmtes Handeln ermöglicht. Ein Mann, der gefesselt und penetriert wird, so die Idee, hat die Wahl, sich zu unterwerfen. In einer Gesellschaft, in der die Dominanz von Männern über Frauen in allen Gesellschaftsbereichen Realität ist, fühlt sich sexuelle Unterwerfung für Frauen oft weniger wie eine Wahl an. Die Projektion des Begehrens auf einen fiktiven Raum der Gleichheit erlaubt eine wirkliche Exploration. Hätte ich dieses Begehren auch, wenn ich befreit von meiner eigenen, vergeschlechtlichten Realität wäre? Mehr noch: Dieses Loslösen bedeutet auch, als natürlich verklärte sexuelle Praktiken zu hinterfragen. So bietet Yaoi auch einen Raum für Hetero-Frauen, ihr Begehren nach einer aktiveren, penetrierenden oder dominierenden Rolle zu erfahren.
Auch Lesben stehen auf Boys Love
Die Psychologin Anna Madill glaubt daran, dass Yaoi ein sicherer Raum für weibliche sexuelle Exploration ist. Sie hat an BL weibliche Paraphilien untersucht. Lange hielt sich, auch in der Forschung, die Annahme, sexuelle Perversion sei für Frauen atypisch. Das liegt auch daran, dass lange an verzerrten Stichproben geforscht wurde: männlichen Sexualstraftätern. Fantasien wurden überhaupt nicht bedacht. Madill findet es wichtig, anzuerkennen: „Wir haben alle perverse Fantasien. Fantasien sind sexy, weil sie pervers sind.“ Sie begrüßt, wenn Frauen sich diesen Raum nehmen.
„Wir haben alle perverse Fantasien. Fantasien sind sexy, weil sie pervers sind.“
Spricht man mit Fujoshis, bestätigt sich: Der Reiz des Genres liegt auch in der Distanz zur eigenen vergeschlechtlichten Realität. Auch klar wird, dass Yaoi gar nicht nur straight ist. Auch Lesben, bisexuelle und asexuelle Frauen mögen BL. Sie sagen, dass ihnen das Genre die Erkundung der eigenen Identität ermöglichte, noch bevor sie sich dieser vollkommen bewusst waren. Die stilisierten, fast feminin wirkenden Charaktere können als eine Art idealisierter Mann gesehen werden, der einem nie zu nahe kommt. Gerade junge FLINTA* können oft noch keine Sexualität jenseits der gesellschaftlich erwarteten Anziehung zu Männern konzeptualisieren.
Einige Lesben und Bi+-Frauen reflektieren das eigene Interesse später so: Eigentlich sehen diese schönen Jungen fast aus wie Lesben – mal butch, mal mehr femme. Yaoi-Manga mögen keine akkurate queere Repräsentation sein. Sie ermöglichen aber queere Praxis: Trans Autor Uli Meyer versteht Yaoi als „Kreativen Transvestitismus“. Durch den Konsum von Yaoi oder durch das Erstellen von BL-Fanart brechen vermeintliche Hetero-Frauen binäre Geschlechtergrenzen. Einige Yaoi-Fans sind „Girlfags“ – dieses Label nutzen Frauen, aber auch einige nicht binäre Personen, die schwul begehren und begehrt werden wollen, oder „Transfags“, schwule trans Männer. Das Genre erlaubt ein temporäres Selbsterleben jenseits der eigenen Verkörperung, das es trans und nicht binären Menschen erleichtern kann, die eigene Identität zu finden.
Am Ende ist die Wahrheit sicher so vielfältig wie die Leser*innen selbst. Vielleicht kann beides stimmen: dass das Genre fetischisierende und problematische Elemente enthält und dass es Raum für queere Erkundung bietet. Alles andere wäre ohnehin langweilig. Und wenn Yaoi eines nicht ist, dann langweilig.
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