Schwule Lust heute
Schwule Männer haben heute mehr Analsex als in den 90ern und entwickeln neue Fetische. Ihre Sexualität hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Wie schwule Lust heute aussieht, darüber sprach SIEGESSÄULE mit Sexualberater und -pädagoge Marco Kammholz
2017 übernahmen Marco Kammholz und Patsy l‘Amour LaLove die Leitung der „Seminarreihe zu aktuellen sexualpolitischen Standpunkten unter schwulen und bisexuellen Männern“. Das diesjährige Seminar der Reihe findet vom 17. bis zum 19. Februar unter dem Titel „Schwule Sexualität und schwule Lust heute“ in der Akademie Waldschlösschen statt und wird von der Deutschen Aidshilfe veranstaltet. Eine der zentralen Fragen, die an diesem Wochenende geklärt werden sollen: „Wo steht der schwule Mann mit seiner Sexualität im Zeitalter des Imperativs der Lust, wo nicht mehr das Ficken, sondern die Lustlosigkeit zum Tabu erklärt wird?" SIEGESSÄULE wollte wissen, wie Schwule ihre Sexualität heute leben.
Marco, welche Veränderungen gibt es in Bezug auf schwule Lust und Sexualität?
Wichtig ist sicherlich, dass sich im Vergleich zu früher die Situation rund um HIV und Aids entdramatisiert hat, zuletzt durch die allgemeine Verfügbarkeit der PrEP. Wenn man sich die Studien im Vergleich ansieht, hat Analsex seit Anfang der 90er-Jahre bis heute zugenommen – durch die PrEP hat sich auch die Kondomnutzung verschoben. Trotz einer bemerkenswerten Beständigkeit hat sich die Szene selbst natürlich auch verändert, die Subkulturen sind teilweise kleiner geworden – das so genannte Szenesterben. Andererseits wird die Szene gleichzeitig queerer und vielfältiger.
„Es gibt weiterhin eine spezifisch schwule Seite der Sexualität“
Welche weiteren neuen Einflüsse gibt es konkret beim Thema schwuler Lust?
Die Fetischszene beispielsweise verändert sich ständig. Inzwischen ist es weniger Leder, sondern eher Sportswear, Lycra oder Puppies. Und dann sind die Schwulen natürlich sexualpolitisch heute den Heterosexuellen rechtlich weitgehend gleichgestellt, Stichwort schwule Ehe. Man könnte vielleicht behaupten, dass ein Teil der schwulen Männer heute dadurch beziehungsorientierter geworden ist. Manche haben nicht ganz zu Unrecht von einer Heterosexualisierung der Homosexualität gesprochen. Aber es gibt weiterhin eine spezifisch schwule Seite der Sexualität: Schwule sind nach wie vor häufiger promisk als die Heteros, sie gehen cruisen, führen deutlich mehr offene Beziehungen und sie sind gar nicht selten – im Unterschied zu vielen Heterosexuellen – sexuell versatile.
„Es kann sowohl entlastend als auch belastend sein, wenn man auf die Zweisamkeit zurückgeworfen wird“
Welche Auswirkungen hat die Pandemie gehabt?
Schwule mit großer Nähe zu schwulen Orten der Geselligkeit oder Sexorten haben unter dem Lockdown sicher stärker gelitten als andere. Es kam zu einer Verstärkung von Einsamkeitsgefühlen. Ich höre es raunen, dass es bei dem drogenaffinen Teil der Schwulen teilweise zu einer Verschärfung des Konsums gekommen ist. In Bezug auf Partnerschaften wäre es spannend zu untersuchen, ob Beziehungen während der Pandemie eher entstanden oder eher zerbrochen sind. Es kann ja sowohl entlastend als auch belastend sein, wenn man auf die Zweisamkeit zurückgeworfen wird – manche sprachen von einer Implosion der Intimität während der Lockdowns.
„In Chats auf Gayromeo oder Grindr kommt man mit Wünschen in Begegnung, von denen man vorher nichts wusste.“
Das Thema Online ist in den letzten 20 Jahren immer bestimmender geworden. Wie hat sich schwuler Sex dadurch verändert?
Martin Danneckers Studie zur Internetsexualität schwuler Männer kam unter anderem zum Ergebnis, dass dabei auch sexuelle Wünsche generiert werden. In Chats auf Gayromeo oder Grindr kommt man mit Wünschen in Begegnung, von denen man vorher nichts wusste. Da passiert also etwas.
Bedeuten mehr Verfügbarkeit und Auswahl in diesem Zusammenhang auch automatisch mehr Lustgewinn?
Ja und nein. Der Zugang zu schwulem Sex wird durch das Internet erleichtert. Daneben gibt es aber auch die gängige Klage, dass alles oberflächlicher und anonymer wird. Hinzu kommt auch die Debatte über Diskriminierung im Netz. Erfahrungen des Ausschlusses und der Erniedrigung gibt es aber auch Offline.
Viele junge Männer, die sich früher als schwul bezeichnet hätten, definieren sich heute als queer. Hat dieser Wandel auch Auswirkungen auf die Sexualität?
Es gibt eine steigende Zahl solcher Männer und Queers, ja – auch wenn ich glaube, dass das manchmal überschätzt wird. Ich frage dabei mal ganz provokant: Gibt es queeren Sex? Wie queer ist man, wenn man schwul vögelt? Wenn es zur sexuellen Erregung oder Handlungen kommt, passiert da nicht was, was man ‚schwul‘ nennen könnte? Ich denke, man kann wunderbar feiern gehen auf queeren Partys, wenn die Jungs dann aber vögeln wollen, gehen sie dann doch an einen schwulen Sexort.
„Im Vergleich zu Thesen wie ‚je promisker der Schwule, desto wichtiger die Fantasie vom großen Schwanz‘, ist die Forschung heute geradezu fantasielos“
Es heißt, dass schwule Männer „Onanierweltmeister" wären. Woher weiß man das?
Die legendäre Studie „Der gewöhnliche Homosexuelle" Anfang der Siebziger Jahre von Martin Dannecker und Reimut Reiche konnte – im Vergleich zu dem Kinsey-Report zur Heterosexualität – feststellen, dass schwule Männer häufiger onanieren. Folgende Studien haben zeitübergreifend dasselbe Ergebnis gezeigt. Schwule beherrschen die Vorlust, im freudschen Sinne.
Woran liegt das?
Ich kann mir vorstellen, dass es im Rahmen des Coming-out-Prozesses bei vielen schwulen Männern zu einer intensiven Beschäftigung mit der eigenen Sexualität kommt. Dannecker hat die gesteigerte Masturbation mit dem Autonomiebedürfnis schwuler Männer erklärt, dass mit dem Onanieren innere Konflikte bewältigt werden sollen. Wie auch die 1974 aufgestellte These, dass, je promisker der Schwule, desto wichtiger die Fantasie vom großen Schwanz, sind solche Überlegungen heute kaum noch in der Forschung zu finden. Da geht es geradezu fantasielos nur noch darum, wie oft und wie safe es die Schwulen treiben.
„In einem Raum voller Männer, die sich mit Sexualität beschäftigen, herrscht natürlich eine gewisse Spannung"
In dem Seminar zur schwulen Lust geht es interessanterweise auch um Lustlosigkeit. Sind schwule Männer ohne Sex denkbar?
Selbstverständlich. Auch Schwule können auf Sex verzichten, gar keinen wollen oder mit direkter Sexualität abschließen. Alles andere wäre ja absurd. Oder aber: Sie wollen Sex, aber finden keinen. Das schwule Diktat von Jugend, Schönheit, Fitness und Leistung trägt dazu sicherlich auch seinen Teil bei.
Auf welchen Forschungen und wissenschaftlichen Theorien fußt euer Seminar?
Grundsätzlich arbeiten wir eher mit einer psychoanalytischen Stoßrichtung. Die Forschungen und Beiträge kritischer Sexualwissenschaftler vor allem der 1970er- und 80er-Jahre sind dabei zentral. Hinzu kommen internationale, aktuelle Studien, die wir mit einbeziehen. Das Seminar besteht ja aus zwei Elementen, die miteinander in Beziehung stehen: zum einen die Theorie und Forschung, zum anderen die Selbstreflektion oder Selbsterfahrung der Teilnehmenden, wobei das eigene Schwulsein zu den Theorien in Beziehung gesetzt wird.
Wer sind die Teilnehmer?
Zum einem sind es Männer, die irgendwie beruflich oder aktivistisch mit dem Thema zu tun haben. Und zum anderen sind es Männer, die Interesse an Selbstreflektion und Selbsterfahrung haben, die sich Fragen stellen an ihre schwule Identität oder die schwule Szene, wobei eventuell auch Krisen bearbeitet werden. Allen gemeinsam ist, dass sie Lust haben auf einen gemeinsamen schwulen Raum, wo Schwulsein kritisch der Reflexion unterzogen wird.
Was gefällt dir persönlich an den Seminaren?
Es wird viel gelacht. Und es bereitet auch viel Lust - auch weil in einem Raum voller Männer, die sich mit Sexualität beschäftigen, natürlich eine gewisse Spannung herrscht. Schwule können sich dabei auch so toll ironisieren, deshalb sind diese Seminare immer auch sehr unterhaltsam.
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