Schwule Lovestorys von FLINTA* stürmen die Bestsellerlisten
Bestseller mit schwulen Liebesgeschichten kommen in diesem Frühjahr gehäuft von weiblichen und nicht-binären Autor*innen. Wir haben uns einige Neuerscheinungen genauer angeschaut
Wer sich mit Darstellungen schwuler Liebe in Unterhaltungsromanen bei Mainstreamverlagen beschäftigt, bekommt einen recht guten Eindruck, wie sich dieser Mainstream momentan „schwules“ Leben vorstellt, wie weit er gewillt ist, sich auf Details einzulassen, und welche Details ihn besonders faszinieren. Insofern lohnt es, die hier vorgestellten Neuerscheinungen genauer unter die Lupe zu nehmen. Fangen wir an mit Anita Kellys „Something Wild & Wonderful“, etwas bieder als „Wir sind wild und wunderbar“ ins Deutsche übersetzt.
Kelly bezeichnet sich selbst als nicht binäre Autor*in von „queeren Romanzen, in denen viel geküsst wird“. Das trifft diese Geschichte recht genau: Alexei Lebedev und Ben Caravalho wollen ihre jeweilige Vergangenheit hinter sich lassen, indem sie den 2500 Meilen langen Pacific Crest Trail wandern. Wobei sie sich immer wieder über den Weg laufen. Der introvertierte Alexei erzählt, wie ihn seine russisch-orthodoxen Eltern in den USA nach dem Coming-out verstoßen haben und dass er auf der Suche nach einer neuen inklusiveren Religionsgemeinschaft ist. Ben sucht nach einem Ziel im Leben und will Sex fernbleiben, weil er zuletzt in mehreren toxischen Beziehungen mit Männern schlechte Erfahrungen gemacht hat, die ihn alle davon abgehalten haben, sich auf sich selbst zu konzentrieren. Natürlich funkt‘s zwischen Alexei und Ben unterm Sternenhimmel Kaliforniens. Bis zum obligatorischen Happy End tauchen verblüffend viele Probleme auf, doch die halten die Spannung hoch.
„Mit Alexei und Ben behandelt Kelly mit religiöser Intoleranz, Autismus und Analsex Themen, die offensichtlich inzwischen anschlussfähig sind.“
Kelly hatte zuletzt in ihrem Roman „Für jede Liebe ein Problem“ die Beziehung zwischen einer frisch geschiedenen Frau und eine*r nicht binären Konkurrent*in bei einer TV-Kochshow ins Zentrum gerückt, also eine FLINTA*-Story erzählt. Mit Alexei und Ben geht Kelly einen anderen Weg, behandelt aber mit religiöser Intoleranz, Autismus und Analsex Themen, die offensichtlich inzwischen anschlussfähig sind. Obwohl bei einer Umfrage letztes Jahr 16 Prozent der Deutschen erklärt hatten, Ekel zu empfinden, „wenn Homosexuelle sich in der Öffentlichkeit küssen“. Kelly geht weit übers Küssen hinaus.
Küsse im sowjetischen Pionierlager
Der Roman „Du und ich und der Sommer“ des russisch-ukrainischen Autorinnenduos Katerina Silwanowa und Elena Malisowa war 2021 in Russland eine Sensation. Es geht um die Teenager Jura (dessen jüdische Großmutter aus Nazi-Deutschland in die UdSSR geflüchtet war) und Wolodja. Sie kommen sich 1986 in einem sowjetischen Pionierlager in Charkiw näher. Der Jüngere steht offen zu seinen Gefühlen, der Ältere will Karriere im kommunistischen System machen und versucht, seine Homosexualität zu verleugnen.
Der Text wurde zuerst auf einem Blog veröffentlicht, danach machte er einen Splash bei TikTok. Schließlich brachte ein russischer Kleinverlag das Buch mit einer 18+-Altersfreigabe raus. Und landete mit über 250.000 verkauften Exemplaren (eBooks nicht mitgerechnet) auf Platz 1 der Bestsellerlisten für Belletristik. Anfang 2022 kam Band 2 auf den Markt, er erzählt die Geschichte ab 2006 weiter und avancierte in Russland ebenfalls zum Bestseller. Woraufhin sich Ultranationalist*innen empörten über die Liebe, die es angeblich zu „ruhmreichen“ Sowjetzeiten nie gab. Und die es heute auch nicht geben darf. Dazu kommt in Band 1 die Beschreibung queeren Lebens in Berlin rund um den Nollendorfplatz in den 1990ern als Gegenentwurf zu den homophoben Realitäten in Russland, auch nach dem Zusammenbruch des Kommunismus.
Beide Bände wurden zur „Perversion“ erklärt, das verschärfte Vorgehen russischer Behörden gegen LGBTIQ* im Jahr 2022 wird u. a. von der Deutschen Presseagentur auf den Erfolg dieser Romane zurückgeführt. Sie wurden aus dem Verkehr gezogen. Die Autorinnen flüchteten, eine nach Rostock, die andere kurz vor Kriegsausbruch in die Ukraine. Nun wird das Buch im Westen von Blanvalet, Teil der gigantischen Verlagsgruppe Penguin Random House, für breiteste Zielgruppen und ohne Altersbeschränkung zugänglich gemacht. Die Autorinnen planen noch einen dritten Teil, vielleicht weil sie erkannt haben, dass sich schwule Lovestorys besonders gut verkaufen – und besonders gute Chancen auf eine Hollywoodadaption haben? Man denke an „Royal Blue“ des*der nicht binären Autor*in Casey McQuiston. Übrigens: Analsex gibt’s zwischen Jura und Wolodja auch. Während er bei Kelly wirkt, wie aus einem Ratgeber abgeschrieben, wird er hier nur über dezente Verweise im Dunkel der Nacht „angedeutet“ („Wird es weh tun?“).
Boomender Fan-Fiction-Markt
Was die Frage aufwirft: Sind Frauen und nicht binäre Autor*innen besser darin, romantische MSM-Szenarien in Worten auszumalen als schwule Autoren wie Benoit d’Halluin, dessen Thriller „Nacht ohne Morgen“ gerade aus dem Französischen übersetzt wurde? Er erzählt die Geschichte von Alexis, der von einem Auto angefahren wird und im Koma liegt. Sein Partner Marc fliegt von New York nach Frankreich, um die Mutter von Alexis zu holen, die nicht weiß, dass ihr Sohn schwul und in einer Beziehung ist. Die Geschichte setzt deutlich andere inhaltliche Schwerpunkte. Schaffte es aber nur, bei einem vergleichsweise kleinen Verlag rauszukommen.
„FLINTA* haben das Genre 'Schwuler Liebesroman' aus der Nische einer rein schwulen Leserschaft rausgeholt und einem größeren Markt zugänglich gemacht.“
Es ist jedenfalls auffallend, dass der Male-Male-Romance- und Fan-Fiction-Bereich von weiblichen und nicht binären Autor*innen dominiert wird und dass große Verlage sich bei den oft zuerst im Selfpublishing-Format veröffentlichten Manuskripten bedienen. Damit haben diese Schriftsteller*innen das Genre „Schwuler Liebesroman“ aus der Nische einer rein schwulen Leserschaft rausgeholt und einem größeren Markt zugänglich gemacht, der laut Statistiken dominiert wird von heterosexuellen cis Frauen als Käuferinnen. Sie entscheiden, was Bestseller wird. Dass gerade diese Zielgruppe solche Offenheit für schwule Charaktere und ihre Lebensrealitäten zeigt, ist bemerkenswert. Offensichtlich können sich diese Leserinnen mit dem Aufbegehren gegen Heteronormativität identifizieren. Und sie haben Spaß daran, wenn Männer sich gegenseitig begehren – und penetrieren.
Besonders auf Englisch boomt dieser Markt. Und Autorinnen wie E. L. Massey schildern nicht nur prickelnden schwulen Sex, bei ihnen kommt noch eine gehörige Portion Utopie dazu, wenn sie über offen homosexuelle Eishockeyspieler in der NHL schreibt, die von Fans und Mannschaftskameraden gefeiert werden. Man weiß, dass das unrealistisch ist, es aber schön wäre, wenn es so sein könnte. Somit sind diese Unterhaltungswerke als Gegenentwürfe zur oft wenig erfreulichen queeren Wirklichkeit ungeheuer subversiv.
Weitere Titel von E. L. Massey: Like Real People (Band 1), 423 Seiten;
Like You’ve Nothing Left to Prove (Band 2), 315 Seiten, je 19 Euro
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