Schaut über euren Tellerrand!
2020 hat uns gelehrt, dass selbst ein Ereignis, das alle betrifft, doch jede*n anders betrifft. Diesen Blick auf andere Perspektiven sollten wir für uns für die Zukunft bewahren – vor allem unter uns Queers, findet Dirk Ludigs
Zwei Dinge habe ich im vergangenen Jahr gemieden, wie, nun ja, die Pest: Menschenansammlungen und Jahresrückblicke. Beides aus Gründen, die nicht näher erörtert werden müssen. Eigentlich ja nur ein Grund.
Und doch nehme ich bei näherer Betrachtung des vergangenen Jahres etwas für mich mit. Gerade weil dieses eine Ereignis, die Corona-Pandemie, so weltweit, so zeitgleich, so massiv und so einschneidend für alle war, wurde mir viel stärker bewusst, wie sehr es darauf ankommt, aus welchem Blickwinkel wir die Dinge betrachten.
Zu Beginn im Februar und März überwog in den Medien noch die Sicht, das Virus sei der große Gleichmacher, da es doch jede*n träfe. Selten so geirrt! Wenn alle dasselbe erleben, dann erleben sie noch lange nicht das Gleiche. (Und ja, liebe Freund*innen der Semantik, das meine ich es genau so und nicht andersherum.)
„Ich sprach mit gut zwei Dutzend queeren Personen und Institutionen, um der Frage nachzugehen, was Corona und die Folgen bedeuten. Die Antworten hätten unterschiedlicher kaum ausfallen können.“
Anfang April durfte ich im Auftrag der tageszeitung in wenigen Tagen mit gut zwei Dutzend queeren Personen und Institutionen sprechen, um der Frage nachzugehen, was Corona und die Folgen für Berlins queere Communities bedeuten. Die Antworten hätten unterschiedlicher kaum ausfallen können. Ob du queer und geflüchtet in einer engen Heimsituation lebst, ob du als Drag DJ auf der Datsche deine Ersparnisse wegschmelzen siehst, ob du als queere Bar ums Überleben kämpfst oder als queere Institution weiter Fördergelder beziehst, ob du als HIV-Langzeitüberlebender mit den Traumata der Vergangenheit kämpfst oder ob du dich einfach nur langweilst, weil alles, was dir Spaß macht, gerade nicht stattfinden darf: das Coronavirus und seine Folgen waren und sind vor allem auch eine Frage der Perspektive.
In weniger ungewöhnlichen Jahren lässt einem der Lauf der Ereignisse nicht die Zeit, die vielen Seiten einer Sache wahrzunehmen, um sich ein Bild davon zu machen. Andererseits haben queere Communities in diesem Jahr noch mehr als sonst zu spüren gekriegt, wie es sich anfühlt, wenn eine Mehrheitsgesellschaft ihre Perspektiven ignoriert, nicht anerkennt und in Entscheidungen nicht mit einbezieht. Die Heteronormativität der Corona-Einschränkungen erreichte in den von traditionellen Familienwerten triefenden Weihnachtsrettungsverordnungen den beschämenden Tiefpunkt.
Umso wichtiger ist es, wenigstens untereinander die Vielfalt der Perspektiven stärker wahrzunehmen. Ein schwules Paar mit Hund wird die Gleichstellung in Ehe und Familienfragen bis auf ein paar Kleinigkeiten für abgeschlossen halten, aus lesbischer Sicht ist dem ganz sicher nicht so. Denn wer weiß, dass von 11.000 gleichgeschlechtlichen Elternpaaren 10.000 Frauenpaare sind, das Adoptionsrecht also für über 90 Prozent derer, die es betrifft, eben weiter diskriminierend wirkt, kann nur zu dem Schluss kommen, dass wir von Rechtsgleichheit noch weit entfernt sind.
„Don’t judge someone before you walked a mile in their shoes.“
Wer von BIPoC-Queers (Black, Indigenous, People of Color) einfach fordert, sich ihren Platz so zu erkämpfen, wie weiße Schwule und Lesben das „schließlich auch“ getan haben, hat keine Ahnung, wie sehr dieser Satz aus BIPoC-Perspektive nach Hohn klingen muss. Nur wer sich einmal in die Perspektive intergeschlechtlicher Menschen begibt, versteht das Ausmaß und die Brutalität der Menschenrechtsverletzungen, die bis heute tausendfach in Operationssälen passieren, und begreift, warum der Gesetzentwurf vom September lediglich „mehr Schutz“ vor uneingewilligten Eingriffen bietet, im Klartext also: für viele immer noch keinen Schutz vor Leid und Trauma. Nur wer die Perspektive der Männer kennt, die jahrzehntelang vergeblich auf Entschädigung für das erlittene Unrecht durch den §175 warten mussten, weiß, wie wichtig in dieser Frage der frühzeitige Kampf um Entschädigung der Betroffenen sein wird. Und wer die Perspektiven queerer Menschen aus der Arbeiter*innenklasse nicht kennt, kann nicht verstehen, warum und vor allem wie die Akademisierung unserer Debatten ständig neue Ausschlüsse produziert.
Das Sprichwort sagt, man könne Menschen nur vor den Kopf gucken. Das stimmt, aber fragen kostet bekanntlich nichts. Im Englischen heißt es: Don’t judge someone before you walked a mile in their shoes. Urteile nicht über eine Person, bevor du nicht eine Meile in ihren Schuhen gelaufen bist. Eine Meile, wohlgemerkt, nicht nur ein paar Schritte! Diese Meile lang sollten sich queere Communities im neuen Jahr Zeit füreinander nehmen – oder sich geben, je nach Perspektive!
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