Russischer Coming-of-Age-Roman: „Die Lüge" von trans Autor Mikita Franko
Anfang Mai erschien der autofiktionale Debütroman „Die Lüge“ des jungen trans Autors Mikita Franko auf Deutsch. Er erzählt von einem Jungen, der in Russland bei einem schwulen Paar aufwächst. Das Buch wurde 2020 in Russland veröffentlicht, wo es an Jugendliche unter 18 Jahren nicht verkauft werden konnte. Zu diesem Zeitpunkt war der in Moskau lebende Autor 23 Jahre alt
Als der fünfjährige cis Junge Mikita nach dem Tod seiner Mutter von seinem Onkel Slawa adoptiert wird und zu ihm in die russische Provinz zieht, weiß er noch nicht, dass Slawa schwul ist – oder dass es so etwas wie Homosexualität überhaupt gibt. In Mikitas Kinderbüchern, in den Filmen, die er sieht, kommen selbstredend keine queeren Beziehungen vor.
Bei seinem neuen Papa, der selbst kaum dem Teenageralter entwachsen ist, fühlt sich der Icherzähler in „Die Lüge“ sofort wohl. Beide sind Queen-Fans, essen gerne Cornflakes und schauen die halbe Nacht lang Trickfilme. Als Slawas Partner, der ältere, stets korrekt gekleidete Arzt Lew, bei ihnen einzieht und Struktur in ihren Alltag bringt, ist Mikita zunächst wenig begeistert. Allmählich jedoch gewöhnt er sich an den „Freund“ im Haus – bis er mitbekommt, dass die beiden Männer ein Bett teilen. Slawa versucht, ihm in kindgerechten Worten ihre Liebe zu erklären, doch Mikita schleudert ihm nur entgegen: „So was gibt’s nicht. Du lügst.“
Das eigentliche Lügenkonstrukt, das Mikitas Jugend überschatten wird, nimmt allerdings erst mit seiner Einschulung Gestalt an. Gerade hat er begonnen, auch Lew „Papa“ zu nennen, da bläuen ihm Slawa und Lew plötzlich ein, er müsse seine Familie geheim halten – sonst könnte das Jugendamt kommen und ihn in ein Heim stecken. Die ständige Angst und den Druck, die auf seinem kindlichen Alter Ego lasten, macht Mikita in „Die Lüge“ auf schmerzliche Weise deutlich. Sie kanalisieren sich in Wutanfällen, Panikattacken bis hin zu Suizidgedanken. Und als wäre das nicht schon kompliziert genug, merkt Mikita in der Pubertät, dass auch er sich zu Jungs hingezogen fühlt …
Starkes Statement
Das Schreiben wird für Mikita zum Rettungsanker – im Buch wie im wahren Leben. Die kurzen, episodischen Kapitel, aus denen sich „Die Lüge“ zusammensetzt, erschienen zunächst als anonyme Blogeinträge im Internet. Direkt und unverstellt spricht daraus die Stimme eines mal unbeschwert plaudernden, mal trotzigen, mal tief verzweifelten Kindes. Auch in Buchform berührt die Authentizität des Textes – bisweilen hätte ihm allerdings etwas mehr literarische Verdichtung gutgetan.
Dennoch entfaltet Mikitas persönliches Schicksal vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse einen besonders bitteren Beigeschmack: die Glorifizierung alles Militärischen, die Normalität von Prügelstrafen, die stets präsente Abwertung von Andersartigkeit und schließlich die Spirale der Gewalt, in die sich auch Mikita verstrickt.
In einer Szene wird Slawa zur Schulleiterin zitiert, nachdem Mikita als Reaktion auf eine homophobe Äußerung einen Mitschüler geschlagen hat. Slawa nutzt die Gelegenheit für ein Statement, das Mikita nicht vergessen wird: „In einer Gesellschaft, in der alle einander hassen, gibt es keine Garantie, dass sich die Gewalt nicht morgen gegen Sie richtet.“
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