Interview

Riccardo Simonetti: „Du wirst nicht tolerant und offen geboren, sondern du musst es lernen!“

6. Dez. 2021
Bild: Olivier Hase

Der Influencer und LGBTIQ*-Aktivist Riccardo Simonetti über Religion, Marienbilder, Coming-out, Social Media und sein neues Buch „Mama, ich bin schwul“

Riccardo Simonetti, 28, wurde als Fashion-Blogger im Internet berühmt, mittlerweile ist er allgegenwärtig. Unter anderem fungiert er als LGBTIQ*-Sonderbotschafter im Europaparlament und hilft marginalisierten Gruppen mit der Riccardo Simonetti Initiative. Zuletzt hat er sein drittes Buch „Mama, ich bin schwul“ veröffentlicht.

Riccardo, im Oktober hast du dein Buch im SchwuZ vorgestellt. Die Lesung im Glitzer-Overall hatte was von einer Predigt. Was war deine frohe Botschaft? ... dass Eltern ihre Kinder mehr lieben sollten als die Urteile, die andere Menschen über sie fällen! Die Lesung im SchwuZ war toll. Für mich sind da zwei Welten verschmolzen: Meine Mutter war zum ersten Mal mit mir da. Und es waren auch viele Hetero-Promis dabei, die sonst nicht in queeren Clubs unterwegs sind. Im Vorbeigehen habe ich in viele Gespräche reingehorcht und mitbekommen, dass die Leute mehr voneinander erfahren haben. Es sollte ein Event sein, das diese Welten verbindet, aber in einem Safe Space, in dem sich die Community wohlfühlt – und nicht zur Schau gestellt wird.

„Wenn Maria eine Jungfrau war, die ohne Sex ein Kind bekommen hat, dann können wir sie uns genauso gut als gendernonkonforme Person vorstellen“

Auf dem Cover dieser SIEGESSÄULE-Ausgabe posierst du als Maria, die Mutter Gottes. Warum? Es geht mir nicht darum, Menschen wegen ihres Glaubens durch den Kakao zu ziehen, sondern sie daran zu erinnern, dass es in biblischen Geschichten so viele Fragezeichen gibt. Wenn Maria eine Jungfrau war, die ohne Sex ein Kind bekommen hat, dann können wir sie uns genauso gut als gendernonkonforme Person vorstellen. Jede*r kann sich in ihr wiederfinden! Keine*r von uns hat das Recht, ein bestimmtes Gottesbild für sich zu pachten!

Du warst Ministrant in der Kirchengemeinde, bist auf eine katholische Schule gegangen ... ... und meine erste Sendung habe ich auf Bibel TV moderiert. Ich bin in einem Umfeld aufgewachsen, das sehr durch die katholische Kirche genormt war. Viele ihrer Werte sind nicht falsch und helfen Menschen, zum Beispiel die Nächstenliebe. Aber sobald man merkt, dass sie nur für Menschen gilt, die einem Idealbild entsprechen, platzt diese religiöse Blase. Das ist bei mir schon passiert, als ich Teenager war.

Bild: Olivier Hase

Dein neues Buch heißt „Mama, ich bin schwul“. Sind Coming-out-Bücher noch immer notwendig? Ja! Wenn man erwachsen ist und in seiner queeren Persönlichkeit angekommen, dann denkt man vielleicht: „Wir alle mussten da durch!“ Aber dann sollte man sich zurückerinnern an die Zeit, wo man noch nicht zu 100 Prozent das Label gefunden hatte, mit dem man sich heute wohlfühlt. Damals war man dankbar, wenn man jemanden hatte, dem man dazu ein paar Fragen stellen konnte. Aber so jemanden hat nicht jede*r im Leben – deshalb sind Coming-out-Bücher so wichtig!

Haben es deine jugendlichen Follower*innen heute leichter, aus dem Schrank zu kommen, als du damals in Bad Reichenhall? Ich habe oft das Gefühl, dass wir in einer Zwei-Blasen-Gesellschaft leben. Die Menschen in der einen Blase sind super „woke“, sehr empathisch und haben online Zugriff auf ganz viele Creator*innen, die über queere Themen sprechen. Und die in der anderen Blase haben Angst, dass sie in dieser neuen Welt keinen Platz mehr haben, und wehren sich vehement dagegen.

„Es hilft nichts, wenn wir uns in unserer Blase gegenseitig auf die Schulter klopfen“

Zum Beispiel eine Mutter, die unter einem Insta-Post von dir schreibt: „Mein Sohn wird niemals mit Puppen spielen!“ Und diese Kommentare kommen von Leuten, die genauso alt sind wie ich! Das sind die Menschen, die mit uns in der U-Bahn fahren, die mit uns im Supermarkt einkaufen – und die heute Kinder haben.

Wie gehst du mit solchen Kommentaren um? Ich lösche sie nur selten, sondern highlighte sie eher. Damit meine Follower*innen sehen: Das sind die Eltern, die ihr täglich in der Kita trefft. Man kann solche Einstellungen nur bekämpfen, wenn man sich offen darüber unterhält. Und das müssen auch Heteros tun! Auch Rassismus wird nur bekämpft, wenn weiße Personen dazu Stellung beziehen! Es hilft nichts, wenn wir uns in unserer Blase gegenseitig auf die Schulter klopfen und sagen: „Wir wissen, wie’s läuft!“ Stattdessen müssen wir die heteronormative Welt mitnehmen! Denn in der wachsen ja alle Kinder nach wie vor auf.

Dein neues Buch hast du gemeinsam mit deiner Mutter geschrieben. Wer kam auf die Idee? Die kam von mir. Ich hatte eine Therapiestunde, die gut lief. Sie hat Kindheitserinnerungen in mir geweckt, über die ich mit meiner Mama sprechen wollte. Deshalb habe ich sie angerufen. Und zu meiner Überraschung hat sie nicht abgeblockt, sondern selbstkritisch gesagt: „Ja, das war sicher nicht so gut, wie ich das damals gemacht habe.“ Das hat mir imponiert. Und das Gespräch hat mir sehr geholfen. Da habe ich sie gefragt, ob wir unsere Erinnerungen nicht mal aufschreiben sollten. Erst mal war das gar nicht zum Veröffentlichen gedacht, sondern nur für uns beide.

Als daraus dann ein Buch wurde: Habt ihr eure Texte nachträglich zensiert? Im Gegenteil: Manchmal habe ich meiner Mama gesagt: „Ich finde es toll, dass du so offen bist – aber du musst das nicht veröffentlichen!“ Aber ihr war es wichtig, die Geschichte ehrlich zu erzählen. Das finde ich supermutig! Meine Mutter kommt aus einem Umfeld, wo die Dinge, die ich predige – um das Wort noch mal zu benutzen – nicht gang und gäbe sind. Sie wusste mit vielen Sachen nicht umzugehen, hat aber dazugelernt, aus Rücksicht auf meine Bedürfnisse. Du wirst nicht tolerant und offen geboren, sondern du musst es lernen! Und gerade aus Liebe zu ihrem Kind können Eltern das auch lernen! Umgekehrt kann man als Kind lernen, dass man auch daran beteiligt ist, wie die Beziehung mit den Eltern läuft.

„Die Hälfte der gleichgeschlechtlichen Paare in Deutschland sich nicht traut, ihre Zuneigung in der Öffentlichkeit zu zeigen“

Welche deiner eigenen Jugenderinnerungen hättest du beinahe zensiert? Hmmm ... vielleicht die, wie ich Schwulenpornos für mich entdeckt habe. Aber ich fand das wichtig, weil es einen elementaren Unterschied verdeutlicht: Die meisten meiner Schulkamerad*innen hatten am Ende unserer Schulzeit alles durch: den ersten Kuss, die erste Beziehung, den ersten Sex, die erste Trennung, ersten Herzschmerz ... Aber ich war noch weit weg davon! Dann kam ich darauf, mal nach Schwulenpornos zu googeln. Oder genauer: Men-to-men-Porn. Das Wort „schwul“ war viel zu stigmatisiert damals! Wichtig war mir nicht der Hardcore-Sex, sondern dass da Männer intim miteinander waren. Das hatte ich bis dahin nirgends gesehen. Im Buch behandle ich das Thema mit großer Vorsicht. Die Geschichte soll nicht übersexualisiert werden. Das passiert in einem schwulen Kontext ja auch sehr schnell.

Apropos intim: Du bist mit jemandem zusammen, wie man auf Instagram verfolgen kann. Aber bisher ist das Gesicht deines Liebsten nicht eindeutig zu sehen. Warum? Das ist ein Kompromiss. Anfangs habe ich versucht, Steven ganz aus meinem Leben als öffentliche Person rauszuhalten – weil er dafür viel zu sensibel ist! Aber dann habe ich von einer Studie gelesen, dass die Hälfte der gleichgeschlechtlichen Paare in Deutschland sich nicht traut, ihre Zuneigung in der Öffentlichkeit zu zeigen. Das konnte ich gut verstehen, aber ich dachte mir auch: Wenn wir dies auch nicht tun, tragen wir nicht dazu bei, dass es normaler wird. Deshalb möchten wir zeigen: Dieser Mensch gehört zu meinem Leben! Und weil ich nun mal ein sehr öffentliches Leben führe, muss Steven darin vorkommen – aber ein bisschen geschützt!

Riccardo und Anna Simonetti: „Mama, ich bin schwul“,
Goldmann Verlag,
304 Seiten, 12 Euro

riccardosimonetti.com

SIEGESSÄULE-Cover der Dezemberausgabe

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