Regenbogenhauptstadt ohne queere Vision?
Nach der Wahl des Regierenden Bürgermeisters Kai Wegner am 27.04. hat der neue schwarz-rote Senat seine Arbeit begonnen. LGBTIQ*-Aktivist Christoph R. Alms kommentiert für SIEGESSÄULE, was die Große Koalition für die „Regenbogenhauptstadt Berlin“ bedeutet
Nun also doch: Ausgerechnet in der selbsternannten Antidiskriminierungs- und Regenbogenhauptstadt Berlin wurde am 27. April 2023, mit Kai Wegner nach mehr als 20 Jahren wieder ein CDU-Politiker ins Amt des Regierenden Bürgermeisters gewählt. Nach also mehr als zwei Jahrzehnten, in denen sich die Berliner CDU im Abgeordnetenhaus mit der Rolle der Opposition begnügen musste, kam es in Folge der im Februar 2023 durchgeführten Wiederholungswahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus zu einem durchaus historischen Machtwechsel im Roten Rathaus und im Berliner Senat. Nach dem knappen Mitgliedervotum der SPD für eine Koalition mit der CDU (nur 54% der an der Abstimmung Teilnehmenden votierten für den Koalitionsvertrag) und nach erfolgreicher Wahl des CDU-Kandidaten erst im dritten Wahlgang bedeutete der holprige Auftakt der GroKo aus CDU und SPD gleichzeitig das Ende des „linksgrünversifften” rot-grün-roten Regierungsbündnisses von SPD, Bündnis 90/die Grünen und Die Linke.
Erste Schockwellen: Der schwarz-rote Koalitionsvertrag
Erste Schockwellen als Vorboten dieser auch für die Queerpolitik relevanten Entwicklungen waren bereits vor einigen Wochen zu vernehmen, als die Bekanntgabe zur Aufnahme von Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und CDU nicht nur in der Welt der LGBTIQ*-Communitys wohl heftiger als jeglicher Silvesterböller in der Neujahrsnacht 2023 aufschrecken ließ. Der dritte Wahlgang, in dem statt einer absoluten nur noch eine einfache Mehrheit für die Wahl zum Regierenden ausreichte, brachte allerdings Gewissheit: Der Koalitionsvertrag mit so bescheidenen Untertiteln wie „Das Beste für Berlin” und „Ein Regierungsprogramm für alle” wird voraussichtlich für die nächsten dreieinhalb Jahre Grundlage für (queer-)politische Entscheidungen sein.
Dabei fällt der erste Blick in den Koalitionsvertrag von CDU und SPD zumindest nicht so ernüchternd aus, wie einige in den Communitys wohl befürchtet hatten. Immerhin werden im dritten Kapitel des Vertragstextes „Stadt der Vielfalt” zahlreiche queerpolitische Vorhaben der Koalition aufgeführt. So plane man unter anderem die Weiterentwicklung sowie finanzielle Stärkung der Initiative „Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz geschlechtlicher und sexueller Vielfalt“ (IGSV) und strebe eine bessere Projektvielfalt im ganzen Stadtgebiet an, nicht zuletzt auch in bislang „unterrepräsentierten Stadtteilen”. Auch weitere Ansätze der Vorgängerregierung sollen offenbar fortgeführt und verstetigt werden. Konkret genannt werden beispielsweise der Queer History Month, Modellprojekte wie „Diversitygerechtes Ausgehen in Berlin“ mit der Kampagne „Feiern? Safe.“ oder das Rainbow Cities Network. Ebenso werden die HIV/AIDS-Beratungs- und Versorgungsstrukturen im Rahmen der Fast Track Cities-Initiative „95-95-95-0“ aufgeführt.
„Ein grundlegendes queerpolitisches Verständnis, ja eine queere Vision für eine Regenbogenhauptstadt Berlin fehle der neuen Regierung jedoch.“
Außerdem werden mit der Verbesserung der Teilhabe für queere migrantisierte Personen mit oder ohne Fluchterfahrung, mit dem Ausbau der Angebote für queere Jugendliche, junge Erwachsene und Regenbogenfamilien, mit der Förderung lesbischer Sichtbarkeit, der Berücksichtigung der besonderen Bedarfe von bisexuellen Menschen und mit der Stärkung der Selbstbestimmung von trans*, inter* und nicht-binären Personen konkrete Zielgruppen für die queerpolitischen Vorhaben der nächsten Jahre erwähnt.
Allerdings scheint es hier vor allem um die Fortsetzung der bereits bestehenden Projekte zu gehen: Nicht nur aufgrund der inhaltlichen Aspekte, sondern auch wegen der Formulierungen, die teilweise exakt dem Wortlaut des rot-grün-roten Koalitionsvertrages entsprechen und wegen der sich wiederholenden typografischen Fehler, meinen einige Kritiker*innen, zahlreiche queere Projekte seien im neuen Koalitionsvertrag bloß abgeschrieben. Ein grundlegendes queerpolitisches Verständnis, ja eine queere Vision für eine Regenbogenhauptstadt Berlin fehle der neuen Regierung jedoch.
Die Sicherheitspolitik der CDU
Aufhorchen lassen solchen Vorwürfen gegenüber hingegen nicht nur symbol- und prestigeträchtige Ergänzungen wie die Schaffung der Position für eine*n „Queer-Beauftragte*n der Landesregierung Berlin für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt“ und die Standortfestlegung für ein Regenbogenhaus als Community-Center, sondern insbesondere ein sich herausstellender Schwerpunkt der neuen Koalition: die Bekämpfung von Hasskriminalität gegenüber queeren Menschen. So soll eine Landesstrategie für queere Sicherheit und gegen Queerfeindlichkeit entwickelt und die Präventions- und Antigewaltarbeit zum Schutz queerer Personen ausgebaut werden. Ferner soll die Sensibilisierung für queerfeindliche Gewalt fest in der Aus- und Fortbildung der Polizei des Landes Berlin und von Jurist*innen verankert werden. Handlungsempfehlungen des Bundes zur Bekämpfung queerfeindlicher Gewalt sollen umgesetzt und ein Runder Tisch „Schutz vor queerfeindlicher Hasskriminalität“ einberufen werden.
„Auf keinen Fall darf es dazu kommen, dass marginalisierte Gruppen instrumentalisiert und sogar gegeneinander ausgespielt werden.“
Dass eine CDU-geführte Koalition auch in der Queerpolitik einen sicherheitspolitischen Anspruch verfolgt, dürfte nicht sonderlich verwundern. Gerade bei diesem selbstgesetzten Schwerpunkt wird die entsprechende Umsetzung spannend werden. Auf keinen Fall darf es dazu kommen, dass marginalisierte Gruppen instrumentalisiert und sogar gegeneinander ausgespielt werden – wie noch im Wahlkampf von Kai Wegner, im Zuge der geforderten Abfrage von Vornamen der Verdächtigen nach den Silvesterkrawallen geschehen.
Queer als Querschnittsthema
Stattdessen müssen die Bedarfe und Bedürfnisse verschiedener Menschen und Personengruppen konsequent in sich wechselseitig beeinflussenden Politik- und Arbeitsfeldern als Querschnitt mitgedacht und angemessene Maßnahmen umgesetzt werden. Es gilt also, dem eigenen Anspruch nach stärkerer Berücksichtigung von Intersektionalität selbst gerecht zu werden. Denn eine erfolgreiche Queerpolitik zeichnet sich nicht nur durch ein umfangreiches Regenbogen-Kapitel aus, sondern muss gerade auch in allen anderen Politikbereichen konsequent berücksichtigt werden.
„Eine erfolgreiche Queerpolitik zeichnet sich nicht nur durch ein umfangreiches Regenbogen-Kapitel aus.”
Es bleibt abzuwarten, ob der Koalition aus CDU und SPD tatsächlich wie von einigen, sich förderpolitisch bereits in Stellung bringenden Vereinen und Organisationen, ein „queerpolitischer Aufbruch” gelingt. Oder ob, wie von der grünen und linken Opposition befürchtet, viel Symbolpolitik ohne queerpolitischen Weitblick die Politik der nächsten Jahre leiten wird.
Zumindest ein befürchteter queerpolitischer Totalausfall sollte in der Hauptstadt zunächst ausbleiben, sodass der Schatten unter dem Regenbogen vielleicht doch nicht allzu groß werden wird. Das wäre zumindest nicht nur der neuen Regierung, sondern insbesondere den vielfältigen queeren Communitys der Regenbogenhauptstadt zu wünschen.
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