Radikal-lesbische Ästhetik: Die Oper „Sancta"
Glocken, Kerzen, Kruzifixe: Mit „Sancta“ ruft Florentina Holzinger ihre willige Gefolgschaft zu einem neuen Gottesdienst der queer-lesbischen Performancekunst. Ihre „Sex-Oper“, so die Boulevardpresse, löste bereits Skandale in Stuttgart aus. In Berlin wird das Gastpiel heiß erwartet
Schon vor dem Gastspiel in Berlin machte „Sancta“ bundesweit Schlagzeilen: In Stuttgart musste sich der Besucherdienst um 18 Zuschauer*innen kümmern, die über Übelkeit klagten, in drei Fällen musste sogar ein Arzt hinzugezogen werden. Nach der Uraufführung bei den Wiener Festwochen wetterten Bischöfe über die „respektlose Persiflage auf die Heilige Messe“. Im abgebrüht-atheistischen Berlin dagegen werden die Reaktionen auf Florentina Holzingers jüngstes Werk wohl eher nur euphorisch sein. Mit ihren Arbeiten „A Divine Comedy“ (2021) und „Ophelia’s Got Talent“ (2022) hat sich die Choreografin an der Volksbühne bereits eine treue Fangemeinde aufgebaut. Schocken kann man das Berliner Publikum eh nur schwerlich, positiv überraschen aber dennoch schon. Bei ihrem ersten Berliner Auftritt mit „A Divine Comedy“ waren es vier Frauen, die synchron ihren Darm entleeren und an der Rampe symmetrisch platzierte Häufchen hinterließen. In „Ophelia’s Got Talent“ wurde live ein Piercing gestochen, wobei eine Kamera das Geschehen gnadenlos nah heranzoomte: starke Bilder, die wortwörtlich unter die Haut gehen. Bei „Sancta“ kann man sich auf eine weitere Steigerung freuen. Einer Darstellerin wird ein Stück Haut herausgeschnitten, um es anschließend zu braten und zu verzehren.
Ekel, Angst, Scham oder Abwehr
Entscheidend dabei ist, dass Holzinger diese Schockeffekte nicht um ihrer selbst willen benutzt. Die geteilten starken Gefühle, seien es Ekel, Angst, Scham oder Abwehr, kreieren genau das intensive Gemeinschaftsgefühl, das Holziger mit ihrer Kunst anstrebt: Wir alle werden so zu Teilnehmer*innen ihrer Bühnen-Messen und teilen den künstlerischen Kult einer queeren Quasi-Religion.
Wir alle werden so zu Teilnehmer*innen ihrer Bühnen-Messen und teilen den künstlerischen Kult einer queeren Quasi-Religion.
Noch deutlicher als sonst wird der sakrale Charakter nun bei Holzingers neuestem Werk „Sancta“, das sich bewusst an den Riten der katholischen Kirche berauscht. Inspiriert ist das Stück von Paul Hindemiths Kurzoper „Sancta Susanna“ von 1914, in der eine Nonne für ihre erotischen Ausfälle von der Ordensgemeinschaft bestraft wird. Aber wie immer bei Holzinger bleibt die Vorlage nur Ausgangspunkt für eine ganz eigene Interpretation, bei der die ursprüngliche Botschaft ins Gegenteil verkehrt wird. Statt Bestrafung und Reue folgen auf die Sünde hier nur weitere lustvolle lesbische Extasen und Exzesse. Ideenreich plündert Holzinger hierfür den papistischen Fundus und gibt ihn zur Zweckentfremdung frei: Die Sixtinische Kapelle wird zur Kletterwand, ein*e nackte Performer*in schwingt als Klöppel einer riesigen Glocke, Nonnen toben sich auf einer Skateboardrampe aus – und klar, auch ein weiblicher Jesus darf nicht fehlen.
Gern wird Holzingers Praxis in der Presse als „radikalfeministisch“ bezeichnet. Tatsächlich verdankt ihr das Theater sogar etwas gänzlich Neues: eine radikal-lesbische Ästhetik. Und das nicht nur deshalb, weil auf der Bühne jede Menge nackter Frauen unter sich bleiben. Des Öfteren wird in den saftigen Stücken der 38-Jährigen auch tatsächlich Hand angelegt und sich ein ordentlicher Orgasmus gegönnt. Dazu drehen wilde Rockerinnen Endlosrunden auf Motorrädern oder ein lebensgroßer Hubschrauber wird kurzerhand als Riesen-Dildo zweckentfremdet – inklusive abschließendem Monster-Squirt. All das zeigt natürlich auch Holzingers beißend-lustvollen Humor. Das Enfant terrible schont weder sein Publikum noch sich selbst. In „Sancta“ werden Holzinger zum Schluss zwei Haken durch die Rückenhaut getrieben. Sie wird durch den Raum geschwungen, um dort dort mit Metallplatten zu kollidieren. Beim Schlussapplaus sieht man Blut auf ihrem Rücken fließen – Florentina Holzinger aber lächelt selig.
Volksbühne „Sancta“
15.11., 20:00
16.11., 18:00
volksbuehne.berlin
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