Bewegungsmelder

Queersein in Zeiten von Corona

28. März 2020 Dirk Ludigs
Bild: Marcus Witte
Dirk Ludigs

Im neuen Bewegungsmelder zieht Dirk Ludigs den Vergleich zwischen der Corona- und der Aidskrise und fragt, was die queere Community in dieser Situation tun kann und sollte

Es ist schon seltsam, wie neue Ängste die alten wecken können. Vieles in meiner seit zwei Wochen dauernden Selbstisolation zwischen Couch, Bett, Schreib- und Esstisch erinnert mich an meine Befürchtungen von vor fast vierzig Jahren: Die Angst vor Krankheit und Schmerzen. Die Angst vorm Sterben. Die Angst vor einem Staat, der mir meine Rechte nimmt. Die Angst vor der Hysterie, in die sich viele mit einer wachsenden und mindestens so irritierenden Lust am Untergang hineinschaukeln. Damals hieß das Virus HTLV-3. Später nannten es die Experten anders: HIV.

Die, die damals mit der Angst der Menschen ihr Süppchen kochten, hießen Horst Seehofer, Bundestagsabgeordneter der CSU, der Konzentrationslager für Infizierte forderte oder Hans Halter, Spiegel-Reporter, der in seinen Titelgeschichten mit haltlosen Vermutungen die Stimmung gegen Schwule fast bis zur Pogromreife anheizte.

„Wie viele Grundrechte haben wir schon widerspruchslos weggegeben?"

Auch heute ist die Angst kein guter Ratgeber. Wie viele Grundrechte haben wir in den letzten Tagen schon widerspruchslos weggegeben? Wer bremst jene, die immer noch mehr fordern – unsere Handydaten beispielsweise? Wie viele unserer Rechte werden wir am Ende dieser Krise zurück bekommen? Und wer entscheidet, wann es Zeit dafür ist?

Sars-CoV-2 ist nicht HIV. Covid-19 ist nicht Aids. Damals war eine Infektion mit dem Erreger das sichere Todesurteil. Bei Covid-19 liegt die Sterblichkeit bei ein bis fünf Prozent. Damals war es für die Mehrheitsgesellschaft, nach der ersten Hysterie wohlgemerkt, ein leichtes, sich von den Opfern zu distanzieren und sie zu Tätern zu machen. Aids, so hieß es, bekommt man nicht, man holt es sich: In Darkrooms, auf Klappen, beim verantwortungslosen Sex ohne Gummi.

Heute reicht ein Husten, die falsche Windrichtung, der Griff zur Stange, wenn sich der Bus in die Kurve legt – das macht diese Art der Distanzierung, die Suche nach den Sündenböcken, schwieriger. Die mutmaßlichen eifrigsten Verbreiter und die ersten Opfer sind bei Covid-19 nicht identisch.

„Ich lese die gleichen moralinsauren Kommentare wie in der Aidskrise“

Und doch greifen heute wieder dieselben Mechanismen wie damals. Auch ich ertappe mich fluchend im Supermarkt, wenn ein Mütterchen mit Rentnerporsche verängstigt und überfordert die Abstandsregeln missachtet. Und wenn die Polizei in Barcelona eine schwule Sexparty hochgehen lässt und acht Männer festnimmt, dann lese ich die gleichen, von schwulen Männern geschriebenen, moralinsauren „Recht So!“-Kommentare wie weiland in der Aidskrise. Ein Virus mag keine Moral kennen, aber hoppla, wie schnell glauben wir zu wissen, was noch moralisch ist, sobald ein Virus umgeht!

In Krisen wie dieser lernen wir, was eine Gesellschaft noch als normal durchgehen lässt. Wenig überraschend werden heute wie damals die Grenzen der Normalität von der Mehrheitsgesellschaft gezogen. „Kontakte außerhalb der Kernfamilie“, sagt zum Beispiel die Politik, seien zu vermeiden.

Aber was ist für queere Menschen Kernfamilie? Oft eben genau nicht die Herkunftsfamilie. Queere Jugendliche, vor allem wenn sie bei ihren Eltern oder in Einrichtungen leben, sind jetzt noch häufiger von Isolation, Depression und häuslicher Gewalt bedroht. Queere Menschen leben öfter allein. In Söders Bayern dürfen sie gerade nicht mal eine*n beste*n Freund*in besuchen, wenn er*sie nicht auch Lebenspartner*in ist.

Dürfen wir uns noch eine Person aussuchen, mit der wir Sex haben in den Zeiten von Corona, wenn wir mit unseren Sexpartner*innen, was die Regel ist, nicht in einem Haushalt leben? Oder ist das schon verdammenswert und macht uns zu potenziellen Killern?

In der Aidskrise ist es in Deutschland nach und nach gelungen, der Vernunft zum Durchbruch zu verhelfen. Statt Lagern und Verboten kamen Aufklärung und Selbstverantwortung. Die Einsicht setzte sich durch, dass Menschen sich in der Regel von selbst vernünftig verhalten, wenn sie gut informiert, frei und selbstbewusst sind.

„Die queere Community sollte sich in der Krise lautstark und vehement in die gesellschaftlichen Debatten einbringen!“

Covid-19 ist nicht Aids. Aber die queere Community kann und sollte den Erfahrungsschatz der Aidskrise nutzen. Unsere Institutionen schützen und ihr Überleben sichern, zum Beispiel! Uns in der Krise lautstark und vehement mit unseren Erfahrungen und Bedürfnissen in die gesellschaftlichen Debatten einbringen!

Vor allem aber: Auf unsere Schwächsten aufpassen! Dazu gehören z. B. Geflüchtete genauso wie unsere HIV-positiven Langzeitüberlebenden, die heute oft über Sechzig und mit Vorerkrankungen belastet sind. Aber auch die von der Aidskrise Traumatisierten, unabhängig von ihrem HIV-Status, brauchen uns jetzt mehr denn je. Damals mussten wir Safer Sex erst lernen, heute können wir in der virtuellen Welt die bekannten sicheren Wege nutzen, um den Kontakt zu unseren Liebsten nicht abbrechen zu lassen.

Angst und Trauer gehören dazu, wenn wir eine Pandemie durchleben. Es ist okay, sie zu spüren, sich ihnen auch mal hinzugeben. Mitgefühl und Solidarität gehören aber auch dazu. Die queere Welt hat schon einmal bewiesen, dass sie zu beidem fähig ist, dass sie in einer Krise über sich selbst hinauswachsen kann!

Holen wir in den kommenden Wochen, vielleicht Monaten, in denen die Coronakrise unser Leben bestimmen wird, also das Beste in uns hervor. Kümmern wir uns wie damals mit all der Liebe füreinander und umeinander, als wär’s das letzte Mal! Ich wette: Wir werden wieder erleben, wie es uns aus der Ohnmacht holt und wie es uns stärker macht – egal, ob wir gerade Hilfe brauchen oder aber die Kraft haben, Hilfe zu geben!

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