Queere Proteste in der Türkei: „Wir werden als Terroristen diffamiert“
Seit Anfang Januar protestieren Studierende in Istanbul gegen den neuen Universitätsdirektor der Boğaziçi-Universität, der der konservativen Regierungspartei AKP nahesteht. Sie fordern Demokratie und LGBTI*-Rechte. Während die Polizei gewaltsam gegen die Proteste vorgeht, macht die türkische Regierung weiter mit LGBTI*-feindlicher Rhetorik Stimmung. Einer der Demonstrierenden ist der queere Student Olcay. SIEGESSÄULE erzählte er, wie es ist, von der Regierung als „Terrorist“ und „Perverser“ beschimpft zu werden und warum er trotz allem weiterkämpft
Olcay, seit dem 4. Januar gehen du und andere türkische Studierende, aber auch Universitätsprofs und Leute von außerhalb gemeinsam auf die Straße. Was genau hat euren Protest ausgelöst? An Neujahr hieß es plötzlich: Die Boğaziçi-Universität hat einen neuen Direktor, Melih Bulu. Der hat weder mit unserer Uni noch mit Wissenschaft viel am Hut. Seine Doktorarbeit soll ein Plagiat sein. Aber er steht der Regierungspartei AKP und Präsident Erdoğan nahe. Seit dem Putschversuch 2016 weitet Erdoğan seinen Einfluss auf die Hochschulen immer weiter aus. Die Boğaziçi-Universität war eine der letzten Universitäten, an denen der Direktor noch hochschulintern und demokratisch gewählt wurde. Schon am Montag, nachdem Erdoğan den neuen Direktor ernannt hatte, haben sich im Univiertel und auf dem Campus gut 3.000 Menschen versammelt und gegen die fehlende Demokratie an unserer Universität und in der Türkei protestiert.
„Wir dachten uns: Was ist friedlicher als eine Kunstausstellung? Trotzdem wurden am 29. Januar vier Studierende, die die Ausstellung organisiert hatten, festgenommen.“
Der Protest hält an und hat sich auf andere türkische Städte ausgeweitet. Die Bilder in den sozialen Medien zeigen: Ihr demonstriert nicht nur, sondern habt auch auf dem Campus gekocht, Lesungen veranstaltet und eine Kunstausstellung organisiert. Wir nutzen bewusst diese Protestmittel. Denn obwohl wir nur von unseren Grundrechten Gebrauch machen, hat Erdoğan uns von Anfang an als „Terroristen“ diffamiert. Wir dachten uns: Was ist friedlicher als eine Kunstausstellung? Trotzdem wurden am 29. Januar vier Studierende, die die Ausstellung organisiert hatten, festgenommen. Zwei sind immer noch nicht frei. Ihnen soll der Prozess gemacht werden.
Mit welcher Begründung? Es geht um ein Kunstwerk, das wir bei der Ausstellung auf dem Campus gezeigt hatten. Es ist eine Collage und zeigt die Kaaba, einen Teil der Großen Moschee in Mekka. In der Mitte ist das mythische Wesen Şahmaran zu sehen, das für Weiblichkeit steht. Und in den Ecken sind kleine LGBTI*-Flaggen abgebildet. Das Bild richtet sich gegen Frauenhass und LGBTI*-Feindlichkeit, jemand hatte es anonym für die Ausstellung an der Uni eingereicht.
Der türkische Innenminister hat euch Protestierende und LGBT*-Personen daraufhin als „Perverse“ diffamiert und Präsident Erdoğan hat behauptet, LGBTI* gäbe es in der Türkei nicht, das Land habe schließlich „Werte“. Was bedeutet diese Hetzkampagne für dich als queere Person? Seit diesen Äußerungen bekomme ich Todesdrohungen und Gewaltandrohungen, verschickt von regierungsnahen Internettrollen. Sie anzuzeigen würde nichts bringen. Auch von Polizeibeamten werde ich homophob beschimpft. Diskussionen in westlichen Ländern kommen mir im Vergleich lächerlich vor: Meine größte Sorge ist nicht, ob ich die Hand meines Partners in der Öffentlichkeit halten kann – ich habe Angst davor, zu Tode geprügelt zu werden. Ich bin eine sichtbar queere Person. Wenn ich abends vom Unterricht nach Hause komme, merke ich, dass mir Leute folgen. Auf dem Campus und außerhalb fühle ich mich nicht sicher.
„Diskussionen in westlichen Ländern kommen mir im Vergleich lächerlich vor: Meine größte Sorge ist nicht, ob ich die Hand meines Partners in der Öffentlichkeit halten kann – ich habe Angst davor, zu Tode geprügelt zu werden.“
Allein am Montag vergangene Woche hat die Polizei in Istanbul bei Protesten 159 Studierende festgenommen, sie kamen erst nach und nach wieder frei. Protestierende berichten, dass Polizisten sie getreten und ihnen Zähne ausgeschlagen haben. Wie schaffst du es, trotzdem nicht aufzugeben? Es ist schockierend. Wir sind nur ein Haufen Kinder! Trotzdem saßen bei unseren Protesten teilweise Scharfschützen der Polizei auf den Dächern. Gerade wir LGBTI*-Personen sind ständig in Gefahr. Es kann nicht so bleiben, wie es ist. Das ist kein Leben! Deshalb: Wir werden nicht nachgeben, wir werden nicht aufgeben. Wir machen weiter, bis unsere Forderungen erfüllt sind.
Was fordert ihr? Der neue Direktor der Boğaziçi-Universität soll zurücktreten. Die LGBTI*-Hochschulinitiative, die er aufgelöst hat, muss weitermachen dürfen. Und wir fordern, dass alle Studierenden, die noch in Haft sind, freigelassen werden und die Polizei von unserem Campus und aus unserem Stadtviertel verschwindet.
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