Queer Fantasy & Science Fiction: Unsere Lesetipps
Nichts ist so stark wie die menschliche Fantasie – das zeigt sich auf dem Buchmarkt vor allem bei den queeren Genres Fantasy und Science-Fiction, die oft in einem Atemzug genannt werden. Nancy Schmolt vom LGBTIQ*-Buchladen Eisenherz erklärt, was sie an diesen Büchern so toll findet und was gerade neu zur Pride-Saison auf dem Markt ist
Liebhaber*innen von sogenannter Gay Romance betiteln ihre schwulen Vampir-Fantasy-Geschichten schon gern mal als Science-Fiction. Oder sie verteufeln die vielen technokratischen Begriffe, denen man in Raumschiff-Sagen über den Weg läuft, bevor sie die utopischen Fantasy-Möglichkeiten solcher Welten erkennen. Da sollte man schon mal fragen, was eigentlich der Unterschied zwischen den beiden Literatursparten ist. Widmen wir uns zunächst der Fantasy, da den meisten zauberstabwedelnde Jugendliche und androgyne Elfen bekannt sein dürften. Doch Fantasy kann auch das Märchen von Aschenputtel neu erzählen und lesbisch-feministisch aufwerten, wie bei Malinda Los‘ „Ash“ oder in „Cinderella ist tot“ von Kalynn Bayron.
Nicht nur Ann Rice hat das Potenzial der mystisch wirkenden Vampire in „Interview mit einem Vampir“ (1972) erkannt, schon hundert Jahre vorher wurde in „Carmilla“ von Sheridan Le Fanu vor den lesbischen Vampirinnen „gewarnt“, die junge Mädchen in ihre Kreise holen. Der wohlige Schauer, der Leser*innen überfällt, wenn sie etwas scheinbar Verbotenes in Form eines Romans erkunden, hilft, auch neuere Überlegungen zu queeren Themen anzustoßen.
Queere Elfen, Geister und surreale Welten
So hat sich James A. Sullivan in „Die Chroniken von Beskadur“ (2021/2022) die Frage gestellt, was uns verbindet, wenn Wesen, wie die langlebigen Elfen, durch Wiedergeburten ihr Geschlecht wechseln, aber auch die Erinnerung an ihr alten Lebens wiedergewinnen, inklusive ihr Wissen um die Liebe zu ihren früheren Partner*innen. Oder nehmen wir die fast detektivisch anmutende Geschichte „Das verborgene Zimmer von Thornhill Hall“ (2022), wo Autor Christian Handel einem schwulen Geist durch die Macht der Liebe zum noch lebenden Theodore die Chance auf ein neues Leben gibt.
Ein weiteres wichtiges Fantasy-Beispiel sind die Romane von T. J. Klune, die seit 2021 eins nach dem anderen übersetzt werden. Sie spielen wahlweise in surrealen Welten, wie die herzerwärmende Story des schwulen Jugendamt-Beauftragten Linus Baker in „Mr. Parnassus' Heim für magisch Begabte“, der seine Liebe für Vorschriften gegen seine Liebe zum Heimleiter tauscht. Auch die neueste Klune-Übersetzung, „Die unerhörte Reise der Familie Lawson“ (2023), ist spannend. Der Roman spielt in einer dystopischen Welt, in der der letzte Mensch von einem Androiden, einem Staubsauger und einer robotischen Krankenschwester (mit Hang zu schmutzigen Witzen) aufgezogen wird. Diese Welt gefühlloser Wesen dient dazu, auf einfühlsame Weise die Feinheiten schwuler Asexualität zu erklären. Ich bin schon gespannt, was der im Herbst erscheinende Klune-Band „Das wunderbare Geheimnis von Artemis Vader“ als Grundthema behandeln wird.
Von Frauenplaneten und polyamourösen Reptilien
Heute ist die Repräsentation queerer Figuren im Fantasy-Bereich insgesamt deutlich in den Vordergrund gerückt und damit die Diskussion von Problemen, die wir real noch nicht zufriedenstellend gelöst haben. Das gilt auch für die Literatursparte Science-Fiction. Erstaunlicherweise waren es gerade in der ach-so-technischen Welt der möglichen Zukünfte Frauen, die sich mit feministischer SF einen Namen gemacht haben: Joanna Russ, James Tiptree Jr., Octavia E. Butler, Ursula K. Le Guin und Margaret Atwood.
Ganz ohne heutige Begriffe wie Queerness, Nichtbinarität oder die erkämpften Selbstbeschreibung „lesbisch“ zu verwenden, entwarfen diese Autor*innen mittels humanoider und androider Figuren Welten, wo der Umgang mit dem vermeintlich „Fremden“ durchgespielt wurde, wo es reine Frauenplaneten gab und wo eine echte Umwälzung heteronormativer Verhältnisse zu beobachten war. Ja, das war mal geiler neuer Stoff!
„Heute ist die Repräsentation queerer Figuren im Fantasy-Bereich insgesamt deutlich in den Vordergrund gerückt.“
Was queere Autor*innen heute in diesem Bereich leisten, schlägt aber teils genauso kräftig ein. Denn Intersektionalität und Inklusion sind gerade hier keine Grenzen gesetzt. Ein gutes Beispiel ist die „Wayfarer“-Reihe von Becky Chambers, die zwischen 2016 und 2022 erschien. Im Universum dieser bunten Raum-Crew arbeiten polyamouröse Reptilien mit zwergartigen Ingenieuren zusammen, die sich in eine KI verlieben. Oder Reisende müssen wegen eines Raumdock-Fehlers ihre Vorurteile gegenüber nomadisch lebenden Gästen, die als diebische Kreaturen verschrien sind, über Bord werfen und einsehen, dass das Stranden in einem abgelegenen Hotel am Rande der Galaxie ihre Ängste mehr schürt als ein Wesen, das aufgrund seiner Anatomie nicht die gleiche Luft atmen kann wie sie.
Das Kennenlernen des Fremden und Abgleichen der jeweils anderen Lebensrealitäten ist es, was die Figuren zusammenbringt. Dass das Kind der Hotelbesitzerin ganz nebenbei noch nicht weiß, welches Geschlecht es bald annehmen wird, ist da einfach die bezaubernde Nebengeschichte einer jugendlichen Person, die sich als sehr liebenswert für die Gestrandeten erweist.
Feministische Figuren und Gewalt
Was zur Frage führt: Wer liest solche Fantasy- und Science-Fiction-Bücher? Die simple Antwort lautet: alle. Erwachsene Leser*innen fragen gern mal nach „expliziteren“ erotischen Szenen. Während für junge queere Frauen Bücher interessanter scheinen, die starke weibliche, oft feministische Hauptfiguren haben.
„Wer liest solche Fantasy- und Science-Fiction-Bücher? Die simple Antwort lautet: alle.“
Leider gehen diese Titel häufig mit viel Gewaltbeschreibungen einher. Da wäre der 2022 erschienene Band „Wilder Girls“ von Rory Powers zu nennen, in dem die Mädchen eines Elite-Internats auf einer Insel einer mysteriösen Krankheit zum Opfer fallen und scheinbar nur darauf warten, dass eine nach der anderen aus dem Leben scheidet. Der weibliche Zusammenhalt und die Kraft, trotz widriger Umstände alles für die Liebe unter den Freundinnen Hetty und Reese und der verschwundenen Byett zu tun, trägt die Geschichte. Ist es der Popularität von den „Tributen von Panem“ geschuldet, dass leidvolle bzw. gewaltvolle Geschichten gerade jetzt reißenden Absatz finden?
Auch der 2023 erschienen Band „Gearbreakers“ von Zoe Hana Mikuta kommt nicht ohne starke Prise Gewalt aus. Hier treffen kybernetisch verbesserte Menschen, die riesige Kampfroboter steuern, auf die sich ihnen entgegenstellende Rebell*innen, die sich gegen die Herrschaft der totbringenden Mechas auflehnen. Pilotin Sona und Rebellin Eris kämpfen kraft ihrer Liebe gemeinsam gegen das System. Was sich nobel anhört, liest sich in den expliziten Kampfszenen doch verstörend.
Frauenliebe über Zeit und Raum hinweg
Dass es auch anders geht und die Action trotzdem nicht zu kurz kommt, zeigt mein absoluter Favorit und mehrfacher Award-Gewinner: „Verlorene der Zeiten“ von Amal El-Mohtar und Max Gladstone. Zwei Zeitagentinnen sind sich in der Frage zu „technisch höchstem Fortschritt“ versus „extremer Rückkehr zur Natur“ gegenübergestellt.
Ihre beiden Firmen kämpfen seit Äonen gegeneinander und versuchen ihre Sicht mittels der Beeinflussung der Zeit durchzusetzen. Womit niemand rechnet, ist die verbotene Kontaktaufnahme der beiden Agentinnen, die sich über Briefe in jeglichen Zeitperioden hinweg austauschen und näherkommen. Welch ungeahnte Formen diese Briefe annehmen können, ist genau das, was die menschliche Fantasie in Fantasy-Romanen leisten kann. So wächst ein Liebesbrief über Jahrhunderte in der Rinde eines Baumes, nur um von der einen Agentin erkannt und gelesen zu werden. Mit poetischer Kraft wird hier unprätentiös die erstarkende Liebe zweier Frauen über Zeit und Raum hinweg erzählt.
Schon Octavia Butler hat Zeitreisen als Medium benutzt, um auf Rassismen und deren Strukturen aufmerksam zu machen. Micaiah Johnson benutzt im Roman „The Space Between the Worlds“ (2021, leider noch nicht übersetzt) die Möglichkeit von Parallelwelten, um mit ihren lesbischen Hauptfiguren die Machtstrukturen eines technisch weit fortgeschrittenen Riesenunternehmens zu hinterfragen. Denn im Buch werden gerade jene Menschen für die lebensgefährlichen Einsätze angestellt, die nach Meinung des weißen cis-männlichen Konzerns ersetzbar sind, da sie aus den Slums außerhalb einer Mega-City stammen und rechtelos ihr Dasein fristen.
Heldenepos aufgequeert
Wer des Englischen nicht so mächtig ist, muss sich manchmal in Geduld üben. So werden mit Preisen überhäufte Romane zwar gern übersetzt, aber wie die wunderbare Fantasy-Reihe „Drachengesänge“ (2019-2020) von Jenn Lyons zeigt, dauert es manchmal, bis der nächste Band auf Deutsch da ist. Bei einer Seitenstärke von über 800 Seiten, wohl auch kein Wunder. Da hilft es nichts, dass es schon drei Bände der zunächst eher klassisch anmutenden Saga bei Klett-Cotta gibt.
Die Autorin hat es geschafft, den altbekannten Heldenepos eines armen Jungen aus einfachen Verhältnissen (er wächst in einem Bordell auf und wird von einem Blinden großgezogen) dermaßen zu queeren, dass es eine Freude ist, dem Einfallsreichtum Seite um Seite zu folgen. Hier wird zwischen der Dämonen- und der Menschenwelt ebenso gewechselt wie die Liebe zwischen den Protagonist*innen sich ändert. In so einem komplexen Weltenbau darauf zu achten, dass die Darstellung gleichgeschlechtlicher Liebe als selbstverständlich und die vermeintlichen Rollen weiblich, männlich oder nicht-eindeutiger Geschlechter eine so hohe Präsenz haben, wie in diesen Bänden, kann in Hinblick auf den gesamten Genrebereich herausragend genannt werden.
Wer nun die erwähnten Bücher sucht, um sie zu lesen oder die Vielfalt innerhalb des Genres zu erkunden, dem sei der folgende Link ans Herz gelegt: prinz-eisenherz.buchkatalog.de. Denn denkt dran: die Unterstützung der eigenen queeren Räume trägt zu ihrem Erhalt bei, das gilt auch für Buchläden.
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