Queer bei Olympia
Vom 26. Juli bis 11. August finden die 33. Olympischen Sommerspiele statt. Eigentlich sollten es „komplett geöffnete“ Spiele werden. Doch was Offenheit gegenüber Geschlechterbildern oder Queersein betrifft, geht es eher gestrig und kleinkariert zu. Willkürliche Definitionen von Weiblichkeit und rassistische Stereotype dominieren. Und wer schnell und gut ist, kann und darf schlicht keine Frau sein
„Team Regenbogen so groß wie nie“, jubelten die Sportressorts vor den letzten Olympischen Sommerspielen. 2020 in Tokio traten 186 offen queere Athlet*innen an – so viele wie nie zu vor –, und Gewichtheberin Laurel Hubbard schrieb Sportgeschichte als erste offene trans Athletin bei den Olympischen Spielen. In diesem Jahr in Paris werden es wahrscheinlich weniger sein. Und Laurel Hubbard darf aufgrund von Regelverschärfungen nicht mehr antreten. Diese Entwicklung steht im krassen Gegensatz zum diesjährigen Slogan „Ouvrons grand les Jeux“, also: „Lasst uns die Spiele komplett öffnen“.
Im März 2022 hat das Internationale Olympische Komitee (IOC) die allgemeingültigen Vorgaben zur Teilnahme von trans* Personen abgeschafft und durch einen flexiblen Regelrahmen ersetzt. Der verspricht „Fairness, Inklusion und Antidiskriminierung“ für alle Athlet*innen, unabhängig von ihrer Geschlechtsidentität – ist aber rechtlich nicht bindend. Da die einzelnen Sportarten so unterschiedlich seien, sollen die verschiedenen Weltverbände nun selbst entscheiden, unter welchen Voraussetzungen trans*, inter* oder nicht binäre Sportler*innen teilnehmen dürfen, so das IOC. Einige Verbände haben daraufhin jedoch so strenge Regeln erlassen, dass trans* Frauen nun faktisch von der Teilnahme ausgeschlossen sind. So sind nur Sportler*innen zugelassen, die ihre Transition bereits vor dem Eintritt in die Pubertät begonnen haben. Dabei ist die geschlechtsangleichende Hormontherapie in den meisten Ländern – wenn überhaupt – erst im Alter von 16 Jahren oder mit Erreichen der Volljährigkeit möglich.
Diese Regel verpflichtet Athlet*innen dazu, nach Aufforderung ihren Testosteronwert prüfen zu lassen und durch Medikamente oder chirurgische Eingriffe zu senken.
Diese Regel betrifft nicht nur Gewichtheben, sondern auch Leichtathletik, Radsport, Schwimmen und Rugby. Damit ist der Traum von Olympia nicht nur für Laurel Hubbard geplatzt, sondern auch für die englische Profiradfahrerin Emily Bridges und die Französin Halba Diouf, die hart für den 200-Meter-Lauf trainiert hatte. Dabei stellt eine aktuelle Studie des IOC fest, dass trans* Frauen keinesfalls pauschal im Vorteil, sondern in mehreren Bereichen sogar benachteiligt sind. Der Präsident von World Athletics (Weltverband der Leichtathletik), Sebastien Coe, begründet die Regelverschärfung seines Verbands mit der „Notwendigkeit, die weibliche Kategorie zu schützen“.
Diese Form des Gatekeeping in der Frauenkategorie hat eine lange Tradition: Sportler*innen werden seit jeher mit der Frage konfrontiert, ob sie „echte“ Frauen seien, und müssen sogenannte „Geschlechtsüberprüfungen“ über sich ergehen lassen. Angefangen mit „Weiblichkeitszertifikaten“ in den 1930er-Jahren über das Abtasten von Genitalien in den 50ern und Chromosomentests in den 1970ern bis hin zur 2012 von World Athletics eingeführten „Regel zu Hyperandrogenismus“. Diese Regel gilt bis heute und verpflichtet Athlet*innen dazu, nach Aufforderung ihren Testosteronwert prüfen zu lassen und diesen, wenn er einen willkürlich festgelegten Grenzwert überschreitet, durch Medikamente oder chirurgische Eingriffe zu senken. Der Weltärztebund hat diese Praxis bereits 2017 heftig kritisiert: „Wenn Ärzte diese Medikamente verabreichen, verstoßen sie gegen den Ethik-Code“, warnte der Vorsitzende Frank Ulrich Montgomery. Er hält es für „sehr bedenklich, Athleten Hormonpräparate zu verschreiben, um die normalen Vorgänge in ihrem Körper zu verändern“.
Eklatanter Rassismus
Die südafrikanische Mittelstreckenläuferin Caster Semenya, die durch den Testosterongrenzwert immer wieder von der Teilnahme an internationalen Wettkämpfen ausgeschlossen wurde, hatte 2018 erfolglos dagegen geklagt. Als „eklatanten Rassismus“ bezeichnete die Regierungspartei Südafrikas das willkürliche Festlegen von Testosterongrenzwerten.
Die Regelungen verletzten „die Menschenrechte der Athlet*innen“ und zielten „vor allem auf diejenigen in Osteuropa, Asien und auf dem afrikanischen Kontinent“.
Die Regelungen verletzten „die Menschenrechte der Athlet*innen“ und zielten „vor allem auf diejenigen in Osteuropa, Asien und auf dem afrikanischen Kontinent“. Tatsächlich werden laut einem Bericht von Human Rights Watch (HRW) Schwarze Athlet*innen besonders häufig „missbräuchlichen Geschlechtstests“ unterzogen, die laut HRW auf willkürlichen Definitionen von Weiblichkeit und rassistischen Stereotypen beruhen. So durften bei den letzten Spielen in Tokio die beiden schnellsten 400-Meter-Läuferinnen der Welt nicht für Namibia antreten. Christine Mboma und Beatrice Masilingi, die zu diesem Zeitpunkt beide erst 18 Jahre alt waren, mussten sich im Vorfeld Untersuchungen unterziehen, und die halbe Welt spekulierte über ihre Genitalien. Schließlich wurden sie wegen „zu hoher“ Testosteronwerte vom Wettkampf ausgeschlossen.
Bemerkenswert ist auch, dass nicht alle Sportler*innen getestet werden, sondern nur diejenigen, die durch besonders starke – und damit vermeintlich „männliche“ – Leistungen auffallen. Daran wird deutlich, dass es beim „Schützen der weiblichen Kategorie“ nicht um Fairness geht. Vielmehr ist es eine Abwertung von Leistung im Spitzensport, die nicht von weißen Männern erbracht wird. Davon betroffen ist etwa die ugandische Spitzenläuferin Annet Negesa, die 2011 zur „Sportlerin des Jahres“ gekürt und international für ihre herausragenden Fähigkeiten bewundert wurde. Bei den Weltmeisterschaften desselben Jahres wurde Negesa aufgefordert, sich einem Bluttest zu unterziehen, und aufgrund von „zu hohen“ Testosteronwerten als „hyperandrogen“ gelabelt. Um dennoch zu den Olympischen Spielen 2012 in London zugelassen zu werden, sollte Negesas Testosteronspiegel während eines Krankenhausaufenthalts mit einer Injektion gesenkt werden – so verstand sie es. Doch dann sei die Spitzensportlerin mit OP-Narben am Bauch aufgewacht, über die an ihr durchgeführte Operation habe man sie nicht informiert. Negesa, die mittlerweile in Berlin lebt, leidet unter schweren gesundheitlichen Folgen und ist auf Hormonsubstitution angewiesen.
Jenseits des binären Geschlechtersystems
Annet Negesas Schicksal macht deutlich, wie viel Leid die Einteilung in starre Geschlechterkategorien erzeugt. Es ist an der Zeit, darüber nachzudenken, wie die Wettkämpfe jenseits des binären Geschlechtersystems strukturiert werden könnten. Die Weltverbände machen erste zarte Versuche: Beim Schwimm-Weltcup in Berlin 2023 wurde als „bahnbrechendes Pilotprojekt“ eine dritte Kategorie eingeführt, für alle, die sich nicht als cis männlich oder cis weiblich einordnen. Da sich allerdings niemand dafür angemeldet hatte, mussten die Wettkämpfe abgesagt werden. Der Verband für Gewichtheben plant Ähnliches für künftige Olympische Spiele. Ob eine Extrakategorie eine Verbesserung bringt, ist fraglich – an den zugrundeliegenden heteronormativen und rassistischen Strukturen würde sich schließlich nichts ändern.
Da sich diese bis zu den Spielen, die am 26. Juli beginnen, ganz sicher nicht überwinden lassen und wir uns das Sportgucken nicht ganz vermiesen lassen wollen, feuern wir die Queers, die trotz allem am Start sind, ganz besonders an. Beim Schwimmen freuen wir uns auf die mehrfache Weltmeisterin Ana Marcela Cunha aus Brasilien, die schon in Tokio olympisches Gold holte. Cunha ist mit ihren knallbunt gefärbten Haaren, vielen Tattoos und Butch-Energie eine coole Erscheinung, super sympathisch und dazu eine der besten Freiwasserschwimmerinnen der Welt – lieben wir!
Berlin Bruisers: Der Queere Rugby-Verein
Wer strategisch schauen will, sollte auf keinen Fall Basketball verpassen: Mit fünf lesbischen unter zwölf Spielerinnen ist im extrem erfolgreichen Team der US-Frauen geballte queere Power am Start. Für die olympia-erfahrene Spitzen-Basketballerin Diana Taurasi geht es in Paris um die rekordverdächtige sechste (!) Goldmedaille. Aber auch Frauenboxen lässt sich durchaus als queere Bastion bezeichnen: Mit Michaela Walsh und Kellie Harrington (Irland), Nesthy Petecio (Philippinen), Irma Testa (Italien) und Cindy Ngamba (Kamerun, für das IOC Refugee Team) treten nicht nur fünf lesbische Sportlerinnen, sondern auch der trans Mann Hergie Bacyadan für die Philippinen an. In der Leichtathletik geht mit Mittelstreckenläufer*in Nikki Hiltz die erste offen nonbinary identifizierte Person an den Start. Hiltz läuft für die USA und widmet die Rennen „allen LGBTQ*-Personen“.
Und nach deren Auftritt bei den letzten Sommerolympics freuen wir uns ganz besonders auf US-Kugelstoßer*in Raven Saunders, genannt „The Hulk“. Saunders hat in Tokio bereits Silber gewonnen und bei der Siegerehrung die erhobenen Arme zu einem X überkreuzt, um intersektionale Solidarität zu zeigen. Daraufhin hatte das IOC Ermittlungen eingeleitet, weil politische Gesten bei den Olympischen Spielen verboten sind. „The Hulk“ zeigte sich davon unbeeindruckt und postete auf Insta: „Ich habe alles dafür gegeben. Wenn du Schwarz bist, LGBTQIA+ oder psychische Probleme hast – das ist für euch.“ Wie cool ist das denn? „The Hulk“ ist superstark, solidarisch und hat nebenbei einen krassen Style – dafür freuen wir uns auf Olympia und verabreden uns mit unseren Besties sogar extra fürs Kugelstoßen-Gucken
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