Modern Pop

Queer as fuck: Lie Nings neues Album „utopia“

7. Nov. 2022 Linus Volkmann
Bild: Lukas Städler
Lie Ning

Lie Ning ist einer der aufsteigenden Sterne am anspruchsvollen Pophimmel und steht nun mit seinem Debütalbum „utopia“ an der Schwelle zu internationalem Ruhm. Was den queeren Künstler vom Prenzlauer Berg so innovativ und gleichzeitig so zugänglich macht, erklärt Linus Volkmann

Die Story eines der größten Talente der hiesigen Musikszene beginnt irgendwo ganz profan mitten in Prenzlauer Berg. In den 90er-Jahren, also in einer Zeit, in der sich dort die Diskussionen mehr um Freiräume denn um Gentrifizierung drehten, wächst Lie Ning auf. Mit seiner alleinerziehenden Mutter ist er Teil eines Hausprojekts. Berliner Bohème und soziale Utopien pflastern schon früh seinen Weg – und finden sich nun auch auf seinem Debütalbum wieder.

„(...) die glänzende Oberfläche aktueller Urban Sounds findet sich hier genauso gespiegelt wie klackernder Trip-Hop"

Es geht ums Suchen, ums Ausprobieren, ums Verwerfen. Nicht umsonst gibt der Musiker als Profession auch noch an: Model, Tänzer, Artdirector. Festlegen sollen sich andere, bei Lie Ning wird aufgefächert. Nicht nur deshalb erscheint sein Pop als geschmeidiger Möglichkeitsraum – ausgeleuchtet von warmem, indirektem Licht. Alles klingt einfühlsam, smooth, aber nicht ohne einen gewissen Hauch von Verzweiflung, von Verlorenheit. So kennt man es sonst vielleicht noch von Anohni oder Scott Matthew, aber denen fehlt die soulige Kulisse von Lie Nings Musik. So wird das Album „utopia“ zu einem einzigen Alleinstellungsmerkmal, die glänzende Oberfläche aktueller Urban Sounds findet sich hier genauso gespiegelt wie klackernder Trip-Hop, geht aber weit tiefer, als man es aus den abwaschbaren Charts gewohnt ist.

Dass seine Utopie nicht bloß eine sehnsüchtige Lounge-Tapete darstellt, die man sich mit Classics wie „Smooth Operator“ von Sade in die Wohnung klebt, wird auch im Clip zum Song „utopia“ deutlich. Die Stimmung des Stücks irrlichtert zwischen Begeisterung, Aggression, Resignation, die visuelle Narration tut es der Musik gleich: Sie macht sich daran, hinter den freundlichen Eindeutigkeiten all die sinistren Mehrdeutigkeiten und Zweifel freizulegen. Popmusik als Trip, so viel schön inszenierte Dekonstruktion muss man erst mal finden in dermaßen radiotauglicher Musik. Kein Wunder, dass Lie Nings Entwurf schon weit über die Grenzen hinausgeschwappt ist: „utopia“ sieht sich produziert in London, verantwortlich dafür ist Stephen Fitzmaurice, der schon für Sam Smith oder auch Mary J. Blige an den Reglern saß. Und auf der wichtigsten internationalen Musikmesse – South by Southwest in Austin, Texas – bestritt Lie Ning als einer der ganz wenigen hiesigen Künstler Liveshows.

Lust am Variieren

Von dieser Reise brachte der upcoming Exportschlager sogar noch mehr mit als nur ein paar Visitenkarten internationaler Pop-Beauftragter: „Auf einer Exkursion stolperten wir über einen kleinen Bach umringt von Felsen und einem alten, majestätischen Baumbestand – mitten in der Stadt“, erzählt Lie Ning. „Dieser Ort war so magisch aufgeladen, dass wir ihn unbedingt nutzen wollten. So liehen wir uns Equipment und nahmen eine Live-Session auf. Wir hatten die ganze Zeit Angst, von der Polizei überrascht zu werden, zwischendurch lief zudem laute Musik im Hintergrund – von drei Jungs, die vor ihrem Auto Tanzschritte übten. Alles fühlte sich so frei an, so eine Energie hatte ich lange nicht mehr gespürt.“

„‚utopia‘ sprüht einfach vor Impulsen für kontemporären Pop und ist dabei – natürlich – auch queer as fuck."

Die Lust am Variieren zieht sich bei Lie Ning eben nicht bloß durch das Album, sondern durchs komplette Schaffen. Das Stück „Love“ beispielsweise bietet noch mal ganz andere Farben an, die lässigen Sounds markieren sich als tanzbar, funky, feel-good – doch der Gesang lässt keinen Gedanken an Schönwettermusik aufkommen, eher bekommt man das Gefühl, Funk-Legenden wie T-Connection hätten Bänder mit Billie Eilish getauscht. „utopia“ sprüht einfach vor Impulsen für kontemporären Pop und ist dabei – natürlich – auch queer as fuck. Ehrensache.

Lie Ning: utopia (Humming Rec./ Styleheads), seit dem 21.10. erhältlich

Achtung: Lie Nings Berlin-Konzert wurde vom 08.11. im Hole44 auf den 10.05.2023 ins Columbia Theater verlegt (Tickets behalten ihre Gültigkeit)

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