Bericht vom dritten Prozesstag

Prozess gegen HIV-Arzt: Zeuge hält demütigender Befragung stand

30. Apr. 2021 Sascha Suden
Bild: Sally B.
Der Fall wird vor dem Amtsgericht Tiergarten verhandelt

Im Prozess gegen einen Berliner HIV-Arzt wegen mutmaßlichem sexuellen Missbrauch wurde am dritten Verhandlungstag der erste Zeuge von der Verteidigung vernommen. Die Befragung wirkte respektlos und provokativ, der Zeuge blieb hingegen sachlich und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Sascha Suden berichtet für SIEGESSÄULE vom Prozess

„Was ihnen gedanklich durch den Kopf gegangen ist, interessiert mich. Wenn Sie das hinkriegen, dass sich mental noch einmal in den Kopf zu holen“. So begann der bestellte Gutachter der Verteidigung seine Befragung des Zeugen Martin (Name von der Redaktion geändert) am 3. Tag des Prozesses gegen einen Berliner HIV-Arzt. Dieser wurde von fünf Patient*innen, darunter auch Martin, angezeigt. Dem Arzt wird vorgeworfen, die Patient*innen während der Behandlung in seiner Praxis sexuell missbraucht zu haben. Die Frage des Gutachters zeigt das Dilemma von solchen Prozessen: Einerseits sollen sie zur Klärung des Sachverhaltes dienen, andererseits besteht genau dadurch die Gefahr einer Retraumatisierung der mutmaßlichen Opfer – durch die Notwendigkeit, sich emotional wieder in die durchlittene Situation zu begeben.

Der Gutachter ist freundlich, zugewandt, lächelt. Er soll die Glaubwürdigkeit der Zeugen bewerten. Für den Verteidiger des Arztes, Johannes Eisenberg, steht das Ergebnis allerdings schon fest. „Ich gehe davon aus, dass er mich anlügt“, teilt er erregt mit, als der Zeuge Martin nicht mit Sicherheit sagen kann, bei welchem Arzt er vor dem angeklagten HIV-Arzt über zehn Jahre in Behandlung war. Eisenbergs Befragung ist respektlos, unemphatisch, teilweise unverschämt. So zeigt er am Ende einer Frage seinen ausgestreckten Arm in Richtung des Zeugen und der Nebenklägervertreterin und hebt seinen Mittelfinger, landläufig als Stinkefinger bekannt. Im Saal rumort es. Eine Beleidigung und Provokation. Als ihm auffällt, dass er zu weit gegangen sein könnte, relativiert er den Vorgang. Er habe nur verdeutlichen bzw. fragen wollen, ob bei der Prostatauntersuchung ein Finger benutzt wurde oder ein Proktoskop. Selbst medizinische Laien wissen, dass dafür der Zeigefinger genommen wird.

Befragung der Verteidigung ist verletzend

Im Gegensatz zu seinem Verteidiger-Kollegen König, der sachlich befragt, poltert Eisenberg permanent los. Seine Befragung ist verletzend, herabwürdigend und demütigend. Fast im Stakkato löchert er den Zeugen, lässt ihm kaum Zeit zum Nachdenken oder zur Antwort. „Lassen sie ihn doch mal Luft holen“, greift dessen Anwältin Undine Weyers in die Situation ein. „Holen sie doch mal Luft und sprechen sie nicht“, seine freche Antwort. Eisenberg redet über die Behandlung des Zeugen bei dem angeklagten Arzt, er redet von Sex, blutendem Anus, Feigwarzen, Beischlaf. Eisenberg versucht die Erinnerungen aus dem Gedächtnisprotokoll des Zeugen, dass dieser 2012 unmittelbar nach der angeblichen Tat angefertigt hatte, zu erschüttern. Er macht sich über die die gewählen Formulierungen im Gedächtsnisprotokoll des Zeugen, einem promoviertern Literaturwissenschaftler, lustig. Dieser bleibt gelassen: „Für eine Veröffentlichung hätte ich es noch einmal überarbeitet“, und erntet damit Lacher im Saal.

Die Strategie von Verteidiger Eisenberg scheint eine Konfliktverteidigung zu sein. Selbst seinem Kollegen, dem Verteidiger König, missfällt das wohl. „Auch wenn es Dr. König nicht gefällt, ich fahre fort“, erklärt Eisenberg, und provoziert den Zeugen mit Fragen über dessen sexuelle Gewohnheiten. Der bemerkt aber: „Ich bin vorsichtig. Ich habe Sex mit Kondom gehabt und nie Sex außerhalb der Partnerschaft“. Eisenberg kämpft mit der Staatsanwältin, als sie ihm eine Frage stellt und er sie durch die Maske nicht versteht. „Dann muss man nicht in seine Maske reinblubbern“. Sie erwidert gelassen: „Ich kann nicht so oft die Maske rauf und runter nehmen, wie ich mit ihnen sprechen muss.“

Anwältin Undine Weyers erkundigt sich bei der Staatsanwältin, ob noch weitere, verjährte Missbrauchsvorwürfe gegen den Arzt bekannt seien. Spontan weiß dies die Staatsanwältin nicht. 2012 wurden wohl drei Fälle von der Staatsanwaltschaft eingestellt, u. a. wegen Verjährung. Eisenberg fährt im Folgenden permanent die Staatsanwältin an. Darauf bricht es einmal aus ihr heraus: „Herr Verteidiger, für wen halten sie sich eigentlich?“

Zeuge antwortet überlegt und sachlich

Fast sechs Stunden wird der Zeuge befragt. 13 Prozessbeteiligte haben Fragerecht (der Richter, die Beisitzende, die beiden Schöffen, der medizinische Gutachter, der Glaubwürdigkeits-Gutachter, die drei Nebenkläger*innen-Vertreter*innen und die drei Verteidiger*innen). Doch der Zeuge Martin hält stand. Er antwortet stets überlegt und sachlich. Er erzählt, dass er nach dem Vorfall die Praxis gewechselt habe. Und „das sich das Verfahren bis jetzt hinzieht (acht Jahre nach der Anzeige)“ sei ein „Stressfaktor“. Auch, wenn er den Übergriff des Arztes dem Gedächtnisprotokoll nach vielleicht genossen habe und die Situation etwas geil fand, „war das Ausgeliefertsein eine schlimme Erfahrung“. Bereitwillig spricht er über seine Depression, seine Feigwarzen-Behandlung, wie er Sex macht oder dass er monogam lebt. Außerdem: Er habe sich allein schon wegen seiner Dissertation mit sexuellem Missbrauch beschäftigt. Seinen eigenen (angeblichen Missbrauch) in der Praxis wollte er anfänglich jedoch nicht wahrhaben. Er antwortet immer mit ruhiger Stimme und freundlich. Er betont auch, dass er sich wiederhole und er bestimmte Dinge schon gesagt habe. Das liegt vielleicht an den nur in Nuancen abweichenden Fragen zu Handschuhen, Prostatauntersuchungen, Abläufen und wieviel Finger eingeführt wurden. Dennoch lässt er sich nicht aus der Ruhe bringen.

Verteidiger Eisenberg versucht verzweifelt, seine Glaubwürdigkeit zu erschüttern. Konstatiert gar: „Das wesentliche Verhalten des Zeugen ist, den Erkenntnisprozess zu verhindern“. Doch das Gegenteil ist der Fall. Er wird im Folgenden auf Nachfrage seine alten Laptop zur Verfügung stellen, um zu beweisen, dass das Gedächtnisprotokoll 2012 nach der Untersuchung geschrieben und nicht verändert wurde. Für den Zeugen ist das Gedächtnisprotokoll, das die Verteidigung versucht zu zerpflücken, „ein Dokument von jemandem, dem es schwer fällt sich einzugestehen, dass etwas mit ihm geschehen ist.“ Deshalb sei es auch so ambivalent, denn es war nie zur Veröffentlichung bestimmt. Nach jeder Frage überlegt er, antwortet so wie er sich erinnert, statt auf manche Fragen einfach schlicht mit „nein“ zu antworten. Und er macht es sich nicht leicht, antwortet auch auf intimste Fragen, lässt sich durch die Verteidigung nicht verunsichern. Eines ist nach diesem Tag deutlich: Jemand, der nicht so eine starke Persönlichkeit wie der Zeuge Martin hat, dem droht bei einem solchen Fragemarathon, solch intimen Inhalten und der aufgeladenen Atmosphäre vor Gericht im Falle eines tatsächlichen Missbrauchs eine Retraumatisierung.

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