Prozess gegen HIV-Arzt: Verteidigung zieht Erkrankung eines Zeugen ins Lächerliche
Ein bekannter Berliner HIV-Arzt muss sich zur Zeit vor Gericht verantworten, weil ihn fünf Patient*innen angezeigt haben. Sie werfen ihm vor, er habe sie während der Behandlung missbraucht. Am achten Verhandlungstag stellten Staatsanwaltschaft und eine Nebenklägervertreterin Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Patientenakten in den Raum, auf die sich die Verteidigung bei ihren Aussagen stützt. Sascha Suden berichtet für SIEGESSÄULE vom Prozess
Endlich. Nach acht Prozesstagen stellte die Staatsanwältin Annette Kötschau eine der entscheidenden Fragen: „Können die Patientenakten manipuliert worden sein?“ Die Frage ist deswegen so entscheidend, weil der angeklagte Arzt ausgesagt hatte, er könne sich an vier der mutmaßlichen Opfer nicht mehr erinnern. Die Informationen darüber, wie die Behandlung abgelaufen sein soll, beziehen er und sein Verteidiger Johannes Eisenberg deshalb aus den vorliegenden Patientenakten.
Doch die Staatsanwältin scheint diesen mittlerweile nicht mehr zu vertrauen. Sie stellte die Frage, ob diese nicht nachträglich manipuliert worden wären und benutzte dafür sogar den Begriff „frisiert“. Ihre Vermutung stützte sie auf die Beobachtung, dass in der Patientenakte des Zeugen Lars (Name von der Redaktion geändert), die der Ärztekammer vorliegt, keine proktologischen Untersuchung erwähnt wurde, der Verteidiger aber behauptete, dass diese laut Patientenakte stattgefunden habe.
Die Verteidigung konnte die Zweifel, die die Staatsanwältin an der Glaubwürdigkeit der Patientenakte säte, nicht ganz ausräumen. Diese Unstimmigkeiten seien der Aussage der Verteidigung zufolge durch unterschiedliche Ausdrucke zustande gekommen. Denn es werde zwar alles in die Patientenakte eingetragen, aber sie werde nicht zwangsläufig immer komplett ausgedruckt. Dennoch konnte die Verteidigung nicht aufklären, warum z.B. die proktologische Untersuchung in der Patientenakte, die der Ärztekammer vorliegt, nicht mehr auftauchte. Und die Staatsanwältin schloss ihre Beobachtung mit den Worten: „Wer trägt was wie ein und welchen Realitätsbezug haben die Eintragungen?“ Diese Frage ist nicht unerheblich, denn die Verteidigung versucht, die Zeug*innen als unglaubwürdig darzustellen, da ihre Aussagen oft im Widerspruch zu den Eintragungen in den Patientenakten stünden.
Lars' Nebenklägervertreterin, Anwältin Barbara Petersen, nutzte die Gelegenheit, um auf weitere mutmaßliche Ungereimtheiten aufmerksam zu machen. Denn laut Verteidigung habe zwar – wie auch vom Zeugen Lars bei der Aussage über seinen mutmaßlichen sexuellen Missbrauch durch den Angeklagten behauptet – der Patient masturbiert, doch im Gegensatz zur Darstellung des Zeugen behauptet die Verteidigung, der angeklagte Arzt habe dies unterbunden und den Zeugen der Praxis verwiesen. Davon taucht jedoch in Lars Patientenakte ebenfalls nichts auf. Laut den Aussagen der Verteidigung wird aber genau dort jede Kleinigkeit eingetragen, um den nachbehandelnden Arzt zu informieren. Dass dies bei einem so ungewöhnlichen Vorfall nicht stattgefunden habe, ist ungewöhnlich.
Verteidiger unterstellt dem Zeugen Feigheit
Dafür wurde Zeuge Lars von der Verteidigung wieder angegriffen, obwohl er selbst im Gerichtssaal gar nicht anwesend war. Am vergangenen Donnerstag hatte er als Zeuge vor Gericht über seinen mutmaßlichen sexuellen Missbrauch durch den Angeklagten ausgesagt. Eigentlich sollte die Befragung an diesem Montag fortgesetzt werden, doch Lars konnte aufgrund eines stationären Aufenthalts in einer Klinik nicht anwesend sein. Diese Gelegenheit nutzte Verteidiger Eisenberg, um Häme über den Zeugen auszugießen: „Ich habe gestern Wetten abgeschlossen, dass Lars nicht kommt“, triumphierte er und unterstellte dem Zeugen Feigheit. Selbst als Anwältin Petersen erwiderte, dass er auf jeden Fall so schnell wie möglich aussagen wolle, um das Verfahren auch für sich abzuschließen, prophezeite Eisenberg: „Wir werden ihn hier nicht mehr sehen“. Dann zog er auch noch die Erkrankung des Zeugen, die zu dem Aufenthalt in der Klinik geführt hatte, ins Lächerliche. (Absatz wurde am 02.06.2021 geändert, Anm. d. Red.)
Richter Rüdiger Kleingünther folgte nicht dem Willen der Verteidigung, den Gesundheitszustand von Lars durch einen Amtsarzt überprüfen zu lassen, sondern vertraute der Nebenklägervertreterin, dass er so schnell wie möglich wieder im Zeugenstand erscheine.
Nicht erscheinen werde hingegen Zeugin G., die eine der Nebenklägerinnen ist. Ihre Anwältin erklärte noch einmal, dass sie unter Panikattacken leide, eine Stressbelastungsstörung vorliege und sie dauerhaft verhandlungsunfähig sei. Auch einer Videoaussage fühle sie sich nicht gewachsen. Schließlich müsse sie damit rechnen, von der Verteidigung „desavouiert“ zu werden. Petersen betonte, dass Frau G. sich vor acht Jahren bereit erklärt habe, vor der Ärztekammer auszusagen, um „ihrer sozialen Verantwortung“ gerecht zu werden. Nach diesem langen Zeitraum möchte sie aber nicht mehr an die Belastung erinnert werden.
Vernehmung eines weiteren Zeugen wird vom Gericht abgelehnt
Einem Antrag der Nebenklägervertreterin Undine Weyers wurde vom Gericht nicht stattgegeben. Sie wollte einen weiteren Zeugen - ein vermeintliches Opfer aus Wien - laden lassen, um zu verdeutlichen, mit welcher Routine der Angeklagte bei den mutmaßlichen sexuellen Missbrauchsfällen vorgegangen sei. Richter Reingünther lehnte den Antrag jedoch mit der Begründung ab, dass durch dessen Aussage keine Rückschlüsse auf das Verhalten des Arztes in den vor Gericht behandelten mutmaßlichen Fällen gezogen werden könnten. Dabei ging bereits aus der Verlesung der E-Mail des potentiellen Zeugen durch Undine Weyers hervor, dass der in der Mail geschilderte angebliche Ablauf des mutmaßlichen Missbrauchs durch den Angeklagten Ähnlichkeiten aufweist zu den vermeintlichen Tathergängen, die in der Anklageschrift formuliert sind.
Am Ende des Verhandlungstages kam erneut die sexuelle Orientierung des Angeklagten zur Sprache: Die Staatsanwältin wollte dem Angeklagten noch eine Frage stellen. Eisenberg sagte daraufhin, dass sein Mandant zu einer Antwort bereit sei, solange die Frage „nicht die sexuelle Vorlieben“ des Angeklagten betreffe. Dabei wurde im Verfahren gegen die Berichterstattung von buzzfeed, die das mediale Interesse an dem Fall ins Rollen brachte, der Satz zur sexuellen Orientierung des Angeklagten von Eisenberg nicht moniert und auch vom Kammergericht zur Veröffentlichung freigegeben: „Während der Recherche ergibt sich das Bild eines Arztes mit zwei Seiten. Da ist der international renommierte Mediziner: Ein schwuler Arzt, Anfang 60, der 1994 eine Praxis für die schwule Szene eröffnet, mitten in einem Berliner Regenbogenkiez.“ Und schon im Jahr 2008 ging der Angeklagte nicht gegen eine Veröffentlichung von Belltower vor, in der ebenfalls zu lesen war, dass er schwul sei. Unter der Headline „Schwuchtel – warum ich das nicht mehr hören will“ gab er in dem Artikel von Belltower folgendes Statement: „Das ist ja sowieso eine gute Art der Entgegnung von Diskriminierungen oder Diffamierungen: zu seiner Identität zu stehen und zu sagen: ,Ja ich bin schwul.'“ Warum der Angeklagte sich hingegen vor Gericht so schwer tut, zu dieser Identität zu stehen, bleibt schleierhaft.
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